Von Necla Kelek, Buchauszug aus „Die verlorenen Söhne”, Goldmann-Verlag, Tb-Ausgabe 2007, S. 146 f
Für alle die sich wundern, was im Sommer 2019 in den Schwimmbädern los war, ein Auszug aus meinem Buch „Die verlorenen Söhne” aus dem Jahr 2005. Ein heißer Gruß an alle, die meinen, Integration wäre ein Selbstläufer. Im Gegenteil, die Vielfalt wächst sich aus...
http://www.lifeinfo.de/inh1./texte/Kelek_Koenige-des-Beckenrands.pdf
Von Necla Kelek, Welt, Veröffentlicht am 03.01.2018
Der Islamfunktionär nutzt die Hass-Reden der AfD-Politikerin für seinen Kulturrelativismus über sexuelle Gewalt. Es ist aber nicht egal, wie Demokratien Frauen behandeln oder die Islamische Republik Iran!
https://www.welt.de/debatte/kommentare/article172131764/Sexueller-Missbrauch-Es-ist-fatal-wie-Aiman-Mazyek-von-Storch-benutzt.html
Von Necla Kelek, Allgemeine Zeitung, 25.11.2017
Sahin* aus Homs, heute 26, wurde vor sieben Jahren in Syrien mit der 13-jährigen Tochter seiner Tante verheiratet. Vor vier Jahren floh die Familie, zusammen 22 Personen, Vater, Mutter, Brüder und Schwestern, Schwiegertöchter und Kinder, in die Türkei, wo sie inzwischen eine Bäckerei betreiben. Nach zwei Jahren nahm er das Angebot von Schleppern an, ihn für 4000 Euro nach Deutschland zu bringen. Seit Ende 2015 ist er in Deutschland und als Flüchtling anerkannt. Er hat die Genehmigung, seine Frau nachzuholen. Die Familie aber will seine Frau nicht nachreisen lassen, weil sie seine Eltern versorgen müsse.
http://www.allgemeine-zeitung.de/vermischtes/vermischtes/gastkommentar-von-necla-kelek-zum-familiennachzug-die-kehrseite_18344582.htm
Necla Kelek: Gastbeitrag am 13.12. 2017/ Speakers Corners
Jesuitenpater Tobias Zimmermann, Rektor des Canisius Kollegs, eines katholisches Privatgymnasium in Berlin, hat verkündet, ganz bewußt eine muslimische Lehrerin mit Kopftuch einzustellen. Der Rektor will damit zum einen eine offenere Diskussion über Religion in Deutschland anregen, denn das an Berliner Schulen geltende Neutralitätsgesetz macht wie er beklagt,“ Religion zur Privatsache, verbannt sie ins Private.“ Und das trage „eine Mitschuld am Niedergang christlicher Religion in Deutschland.“
Wiedermal wird das Kopftuch als politisches Symbol mißbraucht. Es scheint wie ein Rückfall in den „Kulturkampf“, den Reichskanzler Otto von Bismarck im 19. Jahrhundert mit der Kirche ausfocht. Dabei ging um die gewollte Trennung von Staat und Religion und den Versuch der Katholiken, weiterhin das Familienrecht zu bestimmen und die Zivilehe zu verhindern. Denn wer das Familienrecht bestimmt, bestimmt die Struktur der Gesellschaft. Das ist in Israel so, wo das Rabbinat über Ehen entscheidet, das ist in islamischen Ländern so, wo die Scharia das Familienrecht bestimmt und das ist in katholischen Ländern wie zum Beispiel in Peru so, wo die Kirche es zulässt, dass vergewaltigte Mädchen ins Gefängnis kommen, weil sie abtreiben wollten. Die katholische Kirche musste von Bismarck zur Anerkennung der Trennung von Staat und Religion gezwungen werden. Glauben ist seitdem Privatsache, das Primat der Kirche Geschichte. Der deutsche Staat hat der Kirche das Wohlverhalten durch eine Jahrhundertrente und Gewährung von Privilegien abgekauft. Dass ein katholischer Pater meint, er könne für seine Schule diesen Vertrag aufkündigen und sich dafür mit dem politischen Islam gemein macht, ist einfach reaktionär. Dass er die ihm anvertrauten Schüler für eine politische Demonstration benutzt, ein Fall von politischem Mißbrauch.
Necla Kelek: Gastbeitrag am 1.12. 2017/ Speakers Corners
Die Bundeskanzlerin selbst hat das Niveau der Debatte bestimmt, über das sich jetzt vom Bundespräsidenten bis zur Gemeinschaftskundelehrerin alle beklagen. Sie hat seinerzeit Thilo Sarrazins Buch bewußt nicht gelesen, aber als „nicht hilfreich“ qualifiziert. Sie hat damit eine Art Revival der politischen Romantik eingeleitet, in der Ideologie und Diffamierung des Gegners mehr zählen als Diskurs und Argument. Die Debatte um „Leitkultur“ oder die Abwesenheit einer deutschen Kultur ist inzwischen auf dem Stand eines 140-Zeichen Arguments angekommen. Eine Nation, die es als Einzige geschafft hat, sich in der Breite mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, diskutiert plötzlich nicht mehr und hat den Diskurs verlernt. Die Werke von Norbert Elisas über das Entstehen von Zivilisation oder von Max Weber über die Verfasstheit und Ethik einer modernen Gesellschaft scheinen nie geschrieben oder von keinem Politiker gelesen worden zu sein. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz entsorgt seit Amtsantritt – mit Unterstützung der Migranten–Lobbys - die Abschaffung einer gemeinsamen Kultur- und Wertegemeinschaft bis hin in die Begriffe. Die diversen Papiere und Vorgaben zur Teilhabe von und die Kontrolle durch Migrantenorganisationen wird von der Bundeskanzlerin beschwiegen und abgenickt.
Das hat Folgen und mündet in einer Politik, in der die Bürger nur noch als Mündel der Politik betrachtet werden. Im 19. Jahrhundert folgte auf die Unterdrückung die (gescheiterte) bürgerliche Revolution, im 20. auf die ideologisierte Politik der Faschismus, dann Sozialismus.
Es wird Zeit, daraus zu lernen.
Artikel in der EMMA vom 14. Juni 2017
Die Ramadan-Demo ist verlogen!
Marek Lieberberg fordert muslimischen Protest gegen Terror. Necla Kelek kritisiert die Halbherzigkeit von MuslimInnen wie Lamya Kaddor, für die der Islam so gar nichts zu tun hat mit dem Terror. Die Deutsch-Türkin findet: Alle MuslimInnen stehen in der Verantwortung gegen den Islamismus - so wie einst alle Deutschen gegen den Nazismus.
Nachdem „Rock am Ring“, Deutschlands größtes Musikfestival in der Eifel, kurzzeitig wegen einer Terrorwarnung geräumt werden musste, erklärte Veranstalter Marek Lieberberg empört: „Ich möchte endlich mal Demos sehen, die sich gegen die Gewalttäter richten. Ich hab bisher noch keine Moslems gesehen, die zu Zehntausenden auf die Straße gegangen sind und gesagt haben: Was macht ihr da eigentlich?“ Der Appell des Konzertveranstalters, dessen jüdische Eltern den Holocaust überlebt haben, hat ein deutschlandweites Echo ausgelöst.
Geht es um Protest oder um Reinwaschung?
Kurz darauf meldete sich eine Muslimin mit einem Aufruf zu Wort. Unter dem Slogan „#NichtMitUns. Muslime und Freunde gegen Gewalt“ ruft die Religionslehrerin Lamya Kaddor aus Dinslaken für den kommenden Samstag zum „Ramadan-Friedensmarsch“ in Köln auf, um „ein mächtiges Zeichen gegen Gewalt und Terror“ zu setzen. 10.000 TeilnehmerInnen werden von den Veranstaltern erwartet.
Liest man den Aufruf, den Kaddor verfasst hat, beschleicht einen der Eindruck, es geht hier weniger um Protest gegen Terrorismus im Namen des Islam. Sondern es geht hier wohl vor allem darum, sich die Hände in Unschuld und den Islam reinzuwaschen. Das signalisiert schon der Name: Ramadan-Friedensmarsch. Damit stellen die Veranstalter ausgerechnet den Protest gegen den Terror unter ein religiöses Motto: Ramadan, die von Strenggläubigen praktizierte Fastenzeit.
„Wenn wir Muslime diese Absage an Terror und Gewalt bekunden, tun wir das nicht, um irgendjemandem zu gefallen“, heißt es selbstbewusst in dem Aufruf zur Demo. „Wir tun es nicht, weil wir uns als Muslime von diesen Gewalttätern distanzieren müssten. Um sich zu distanzieren, müsste es vorher eine Nähe zu diesen Verbrechern gegeben haben.“
Die Ramadan-Marschierer haben also nichts mit den Radikalen zu tun? Wie überhaupt der Islam nichts mit Gewalt und Terror zu tun hat? Der Islam sei das Opfer und eine missbrauchte Religion, soll hier suggeriert werden. Schuld seien wieder mal die Anderen. Der Islam hat nach Auffassung dieser Freunde und Freundinnen des Ramadan weder etwas mit Terror noch mit Ehrenmorden oder Kinderehen und schon gar nichts mit der Geschlechter-Apartheit zu tun. Wer etwas anderes behauptet, sei ein "Rassist" oder "islamophob".
Der Ramadan-Aufruf wurde prompt von den Grünen und von dem Scharia-gläubigen Zentralrat der Muslime unterstützt. Letzteres macht den Appell nicht unbedingt glaubwürdiger.
Man muss nicht Islamwissenschaft studiert haben, um festzustellen, dass die Legitimation der islamistischen Gewalt in der schriftgläubigen Interpretation des Koran selbst begründet liegt. Wer immer noch behauptet, der Koran sei die gültige Offenbarung und seine über tausend Jahre alten Worte dürften keiner kritischen Neulektüre unterzogen werden, der muss erklären, was zum Beispiel an der Koransure 8.12 die angebliche Botschaft der Liebe ist. Da heißt es wörtlich:„Da gab dein Herr den Engeln ein: 'Ich bin mit euch; so festigt denn die Gläubigen. In die Herzen der Ungläubigen werde Ich Schrecken werfen. Trefft (sie) oberhalb des Nackens und schlagt ihnen jeden Finger ab!'"
Was ist mit den Dschihadisten aus Dinslaken?
Die Unfähigkeit offen orthodoxer und pseudo-liberaler Muslime und der schriftgläubigen Verbände, solche Gewaltaufrufe im Koran – und es gibt davon im Koran noch 200 weitere - endlich offensiv zu ächten, ist notorisch. Muslime, die, wie Lamya Kaddor, immer nur gebetsmühlenartig behaupten, der Islam bedeute Frieden und islamistische Terroristen seien keine Gläubigen, sind unglaubwürdig.
Meiner Meinung nach steht die Gemeinschaft der MuslimInnen in der Verantwortung, gegen die Propagierung von Terror in den Heiligen Schriften wie durch manche ihrer Gläubigen aufzustehen! Denn so, wie die Nazis zu Deutschland gehörten, gehören die Terroristen zur Umma, ist der Islamismus Teil des Islam. Damit müssten wir Muslime uns dringend auseinandersetzen. Solange dies nicht geschieht, ist so eine Ramadan-Demo unglaubwürdig.
Übrigens: Dinslaken, die Stadt in der Lamya Kaddor seit Jahren den Islam lehrt, gilt als „Hochburg des Salafismus“ in Deutschland. Der Stadtteil Dinslaken-Lohberg geriet in die Schlagzeilen, als 2013 über zwei dutzend Männer von dort aus in den Irak und nach Syrien gereist sind, um sich der Terrorgruppe Islamischer Staat anzuschließen. Fünf davon waren Schüler von Lamya Kaddor. Wie es dazu kommen konnte - auch das wäre eine (selbst)kritische Reflexion wert.
Necla Kelek
Erschienen in: Rheinische Post, 11. Januar 2016
GASTBEITRAG Hunderttausende junge männliche Flüchtlinge müssen nicht nur die eigene Freiheit lernen. Sie müssen lernen, die der anderen zu respektieren. Das klappt nicht, wenn die Politik keine klaren Regeln aufstellt, findet unsere Gastautorin.
Nachdem inzwischen öffentlich ist, wer die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht am Hauptbahnhof in Köln und anderswo begangen hat, wird auch den zur Zeit verantwortlichen Politikern klar, dass mit den Zuwanderern wie den bereits hier lebenden Migranten auch die ethnischen, religiösen und kulturellen Konflikte aus diesen Regionen in unserem Land angekommen sind.
Nun ist der Schreck groß, und man hat sofort vergessen, was man gestern sagte und neigt zu Überreaktionen. Dieselben Akteure, die noch vor Wochen den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden oder Alice Schwarzer rechtes Gedankengut unterstellten, weil sie auf mögliche Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus hinwiesen, fordern jetzt die „Härte des Gesetzes“. Wenn man das positiv kommentiert, könnte man sagen, unsere Demokratie ist lernfähig. Böse formuliert erscheint es so, als wenn einige Verantwortliche schlicht die Panik vor dem eigenen Volk erfasst hat. Seit Jahren wird zum Beispiel die Polizei auf Deeskalation und politische Korrektheit verpflichtet, und so war es bis dahin offenbar „politisch korrekt“ nach der Silvesternacht lieber Tatsachen – wie die Zahl und Herkunft der Tatverdächtigen – zu verschweigen, als einen Anruf vom Innenminister zu riskieren. Den Kölner Polizeipräsidenten hat dieses wohlfeile Agieren das Amt gekostet.
Aber bei aller Hektik, die jetzt unter den Politikern ausgebrochen ist, ist die Hoffnung gering, dass sich etwas ändern wird. Das Problem ist nämlich, dass bisher bei aller Bereitschaft und Willkommenskultur sich kaum jemand darüber Gedanken gemacht hat, wer denn da massenhaft ins Land kommt. Es fehlt die Analyse, und deshalb gibt es auch kein schlüssiges Konzept für die Integration. Sprüche von grünen Spitzenpolitikern wie: „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich darauf!“, helfen da nicht weiter, sondern verschärfen nur das Problem.
Bis zu 600.000 junge Männer im Alter von unter 30 Jahren sind im vergangenen Jahr zu uns geflüchtet. Aufgewachsen sind sie zumeist in islamischen Ländern, in denen seit Jahren Krieg oder eine Islam-Diktatur herrschen und ihnen keine Zukunft oder Sicherheit geboten wurde. Ihre Sozialisation ist von Gewalt, der Unterwerfung der Frauen durch die Männer, von Homophobie und Antisemitismus, von Unterwerfung des Einzelnen unter die religiöse Gemeinschaft, die Familie, den Clan geprägt. Einige der Flüchtlinge sind sicher gerade vor diesen Plagen geflohen. Aber alle kommen mit der kulturellen Prägung eines islamischen Welt- und Menschenbildes hierher, das sich von dem libertären Freiheitsbegriff unserer Zivilgesellschaft fundamental unterscheidet. Es sind verlorene Söhne – von den Müttern verhätschelt, von den Vätern und der Religion bevormundet, in ihren Herkunftsstaaten um Bildung, Sicherheit und Zukunft betrogen und jetzt allein gelassen und frustriert.
Jetzt sind sie, die die Hoffnung ihrer Familien mit sich tragen, gefordert, sich in einer fremden Umgebung richtig zu verhalten und zu beherrschen. Frauen, die nachts ohne Begleitung unverhüllt auf der Straße feiern, sind in ihrem Weltbild ehrlos und dürfen bestraft und benutzt werden.
Unsere libertäre Kultur in der jeder, auch Frauen machen können, was sie gut finden, und in der man trotzdem Distanz hält, trifft auf ein vormodernes Frauenbild und Frustration bei diesen Männern. Das Ergebnis ist ein Kulturschock, der sich in Gewalt und Übergriffen entladen hat. Wer auch nur ein wenig die Situation in muslimischen Migrantenkreisen kennt, weiß, dass dies kein qualitativ neues Problem ist. Neu ist allerdings die Masse und Öffentlichkeit der Taten. Es wird nicht reichen, diesen verlorenen Söhnen die Sprache ihres Gastlandes beizubringen oder wie man im Supermarkt einkauft. Sie müssen die eigene Freiheit lernen. Sie müssen lernen, die der anderen zu respektieren. Sie müssen Gewohnheiten ablegen, sich ändern, wenn sie in dieser Gesellschaft ankommen wollen.
Unsere Aufgabe ist es, die Kulturdifferenzen zu benennen und klar zu sagen, was erlaubt und was verboten ist. Und wir müssen auch dafür sorgen, dass die mit ihnen zu uns geflüchteten Frauen zu ihrem Recht kommen und geschützt werden. Hier sind bereits in den Flüchtlingsunterkünften besondere Schutzräume und Aufklärung für Frauen nötig. Ich bin sicher, dass dies akzeptiert wird, weil die islamische Kultur von Geund Verboten geprägt ist und den darin aufgewachsenen jungen Männer gelehrt wurde, zu tun, was ihnen gesagt wird. Zunächst sollte es klare Regeln geben. Man kann das auch einen Integrationsvertrag nennen.
Die Freiheit ist bei uns ein Grundrecht, aber jeder muss lernen, damit umzugehen und wissen, dass zur Freiheit auch persönliche Verantwortung gehört. Zu sagen, das sei überflüssig, weil das Grundgesetz doch für alle gelte, ist naiv. Wer seine Rechte und seine Pflichten nicht kennt, wird immer ein Mündel bleiben.
Das bedeutet aber auch, dass unsere Gesellschaft weiß, was sie will. Ein Staat definiert sich nicht nur dadurch, dass er seine eigenen Grenzen sichert, sondern dass die Gesellschaft im Zusammenleben Grenzen vereinbart und durchsetzt. Es sind Regeln und Werte, die uns selbst gelegentlich allzu selbstverständlich erscheinen und die für viele Neuangekommene neu sind. Hoffen wir, dass nach den zuerst schönen und zunehmend harten Worten unsere Politiker jetzt den Schuss gehört haben. Es ist Zeit für Klartext.
Necla Kelek
Erschienen in: Der Standard 5./6. März 2016
Reden wir über Kulturdifferenz: Wer die im Namen des Islam verlorenen Söhne und fremden Töchter in die
Gesellschaft integrieren will, muss auch sagen, was hier erlaubt und was verboten ist. Ein Freiheitsplädoyer.
An den Universitäten wird nicht mehr von Studentinnen und Studenten, sondern von Studierenden gesprochen, im Wahlkampf wird darüber gestritten, ob homosexuelle Paare heiraten und Kinder adoptieren dürfen, oder man eine Frauenquote bei leitenden Positionen in Politik und Wirtschaft einführen soll. An deutschen Universitäten gibt es über 150 sogenannte Genderprofessuren, die fast ausschließlich von Frauen besetzt sind, die grundsätzlich den Unterschied von Mann und Frau in Frage stellen. „Anatomie“, behauptet die führende „Gender“-Theoretikerin Judith Butler, ist nur
„ein soziales Konstrukt“.
Wie weit manch universitäre Debatte von der sozialen Realität entfernt ist, zeigt sich gerade in der Debatte um die große Zahl von Einwanderern aus muslimischen Ländern. Gender- oder Migrationsforschung geht von einem idealisierten Bild von Multikulturalität aus und stellt zum Beispiel keine Fragen zu islamisch tradierten Familienstrukturen. Es gibt auch keine Studien zum wachsenden Islamismus und zu von Saudi-
Arabien oder der Türkei finanzierten Moscheen, weder in Österreich noch in Deutschland.
Aber mit den muslimischen Flüchtlingen kommt eine Diskussion nach Europa zurück, die – zumindest theoretisch – längst erledigt zu sein schien. Es ist die Realität von Zwangsverheiratung, Beschneidung und Gewalt, die Debatte um Gleichberechtigung, Emanzipation und die Apartheid von Frauen.
Diese Probleme treffen Politik und Institutionen unvorbereitet, weil in der Genderund Migrationsforschung, in der schon Geschlechter keine Rolle spielen dürfen, auch Unterschiede zwischen Religionen, Ethnien und Kulturen
nicht problematisiert werden durften und unter dem Verdacht des „Kulturrassismus“ stehen. Das Ergebnis einer solchen ideologisierten Forschung ist das Fehlen von Konzepten für die Integration. Was bleibt, sind hilflose Helfer.
Um die Herausforderung durch die zum größten Teil muslimisch sozialisierten Zuwanderer richtig einschätzen zu können, muss man sich über die „Kulturdifferenz“ zwischen – einfach gesagt dem Islam und dem Westen – auch in Sachen Geschlechterverhältnis und Stellung der Familie klar werden.
Wir können dabei sehr wohl von „dem Islam“ sprechen, weil er sich über alle Kulturen und Ländergrenzen und letztlich alle Rechtsschulen hinweg auf seine autoritativen Texte wie Koran und Sunna beruft. Diese Texte haben über Jahrhunderte den Islam als Zivilisation, Kultur und Gesellschaftsform geprägt. Der Islam ist in diesem soziologischen Sinne auch nicht als Religion zu betrachten, sondern es handelt sich um eine Herrschaftsform. Es geht selbst im Koran nicht darum, zu glauben, sondern darum, Muslim zu sein und sich dem Gesetz Allahs zu unterwerfen. Die autoritativen Texte regeln nicht nur das alltägliche Leben, sondern bestimmen durch Ge- und Verbote Denken und Weltsicht der Gläubigen und ihr Verhältnis zu Anderen. Sie erheben einen allumfassenden Anspruch, das Private wie das Öffentliche zu prägen.
Da gläubige Muslime davon ausgehen, dass Allah alles bedacht und geregelt hat, sind für sie diese Gesetze auch nicht verhandelbar. Ausdruck dieser Dominanz ist die Scharia, die von Gott gegebenen Gesetze, die nach Auffassung von Muslimen über den von Menschen gemachten Gesetzen stehen.
Ausgehend von Arabien dominiert der Islam große Teile der Gesellschaften des Orients seit über 1400 Jahren, er hat das kulturelle, ökonomische, gesellschaftliche Leben in diesen Ländern bis in den letzten Winkel geprägt. Seine Paradigmen sind Teil der herrschenden Gesetze. Bis auf die Türkei
basiert in allen islamischen Ländern das Personenstandsrecht auf der Scharia, sind also die Stellung der Frau bei Eheschließung, Scheidung, Verstoßung, das Versorgungsrecht, das Recht auf die Kinder und die Bestimmung eines
Vormunds abgeleitet vom Koran. In dieser Realität leben Frauen unter der Herrschaft des Mannes, der vor fremden Blicken, das heißt anderen Männern geschützt werden muss. Eine Begegnung von Mann und Frau ist außerhalb der
Familie und Ehe nicht vorgesehen. Die Frau hat ihren Platz in der Familie und im Haus. In der Öffentlichkeit hat sie deshalb in traditionell islamischen Gemeinschaften keinen Platz und muss sich verschleiern.
Die Apartheid von Männern und Frauen führte nicht nur zu einer Versklavung der Frau, auch die jungen Männer leiden unter diesem System. Sie werden daran gemessen, ob sie ihre Frauen, Schwestern, Cousinen bewachen können. Sie können nur über ihre Eltern oder die Familie Kontakt zum anderen Geschlecht aufnehmen. Die Frauen sind ausschließlich als Sexualwesen stigmatisiert. Sie sind verlorene Söhne und heiraten fremde Bräute.
Um die Zukunft betrogen
Vor diesem Hintergrund ist es offensichtlich, dass junge Männer aus islamischen Gesellschaften (aber nicht nur sie) durch ihre Sozialisation ein Problem damit haben, zu akzeptieren, dass Frauen hierzulande die gleichen Rechte haben wie sie. Es sind verlorene Söhne – von den Müttern verhätschelt, von den Vätern und der Religion bevormundet, in ihren Staaten um Bildung, Sicherheit und Zukunft betrogen und allein gelassen, frustriert und mit einem
Weltbild, in dem die Frau die verfügbare Verführerin ist. Dieses Weltbild der religiös verbrämten Dominanz der Männer über die Frauen wird nicht nur in den Moscheen vermittelt, auch die Mütter geben es in der Erziehung an ihre Söhne und Töchter weiter. Der Sohn wird als Prinz verwöhnt, die Tochter zur Dienerin erzogen.
Dass unsere libertäre Kultur in der jeder, auch Frauen – mittlerweile – ein Recht auf ein selbstständiges Leben ohne Bewachung der Männer haben, trifft auf ein vormodernes Frauenbild und Frustration bei diesen Männern.
Das Ergebnis kann ein Kulturschock sein, der sich in Gewalt und Übergriffen entladen kann. Wer auch nur ein wenig die Situation in muslimischen Migrantenkreisen kennt, weiß, dass die Ereignisse an Silvester in Köln kein qualitativ neues Problem sind. Neu war die Masse und Öffentlichkeit der in der Silvesternacht in Köln 2015 begangenen Taten.
Es wird nicht reichen, diese verlorenen Söhne die Sprache oder das Ausfüllen von Formularen zu lehren. Sie müssen die eigene Freiheit lernen und die der anderen zu respektieren. Sie müssen Gewohnheiten ablegen, sich ändern, wenn sie in dieser Gesellschaft ankommen wollen. Wir müssen die Kulturdifferenz benennen und sagen was erlaubt, was verboten ist.
Die Freiheit ist bei uns ein Grundrecht, aber jeder muss lernen, damit umzugehen und wissen, dass zur Freiheit auch persönliche Verantwortung gehört. Zu sagen, das sei überflüssig, weil das Grundgesetz doch für alle gelte, ist naiv. Wer seine Rechte und seine Pflichten nicht kennt, wird immer ein Mündel bleiben.
Das bedeutet aber auch, dass sich die europäische Gesellschaft klar werden muss, was sie will. Ein Staat definiert sich nicht nur dadurch, dass er seine eigenen Grenzen sichert, sondern die Gesellschaft im Zusammenleben Grenzen vereinbart und durchsetzt. Es sind Regeln und Werte, die uns selbst gelegentlich allzu selbstverständlich erscheinen und die für viele Neuangekommene neu sind.
Das heißt auch zu gewährleisten, dass zugewanderte Frauen vor der Unterwerfung unter die Autorität der Männer, vor Frühund Zwangsheirat, vor Genitalverstümmelung oder anderen ihre Menschenwürde und Unversehrtheit betreffende Gefahren geschützt werden. Es muss verhindert werden, dass Frauen in Flüchtlingsunterkünften sexueller Gewalt ausgeliefert sind oder von Männern daran gehindert werden, die Unterkünfte alleine zu verlassen oder wenn, nur unter männlicher Begleitung.
In islamischen Gesellschaften sozialisierte Männer und Frauen legen ihre Vorstellung von der Ungleichwertigkeit der Geschlechter nicht ab, wenn sie die europäische Grenze überschreiten. Um die drohende Zunahme der Parallelgesellschaften zu verhindern und sie insgesamt zu minimieren und schließlich ganz abzubauen, ist es Aufgabe des Aufnahmelandes, die ausnahmslose Gleichstellung der Geschlechter einzufordern.
Für die Migrations- und Genderforscher könnte diese Debatte um Gleichberechtigung und Kulturdifferenz einen heilsamen Kulturschock auslösen. Aber um das Gleichnis aus Bibel und Koran vom Kamel und dem Nadelöhr zu bemühen – eher integrieren sich die Muslime, als dass die Genderund
Migrationsforschung ihren Irrtum eingesteht.
Necla Kelek
Gastkommentar in NZZ 17.11.2015
Der Islam: Gewalt oder Reform
Muslime weisen die im Namen ihrer Religion begangenen Gewalttaten entsetzt von sich – aber das allein genügt nicht. Die Sozialwissenschafterin Necla Kelek fordert ein zeitgemässes Glaubensverständnis.
Die Moschee sollte – und könnte – nicht nur Ort der Gottesverehrung, sondern auch Hort zivilgesellschaftlicher Werte sein. Der Schrecken über die barbarischen Anschläge der Islamisten in Paris sitzt allen in den Knochen, und sofort hört man von sogenannten Islamexperten in den Talkshows, dass dies alles nichts mit dem Islam zu tun habe. So wenig, wie Steinigungen in islamischen Staaten wie Iran und Auspeitschungen in Saudiarabien etwas mit dieser Religion zu tun haben könnten. Öffentlich warnen Schönsprecher davor, diese Taten den Muslimen unterzuschieben. Und man möge auch die Flüchtlinge nicht zu sehr reizen, denn sie würden sich anderenfalls radikalisieren. Der IS wird für verrückt erklärt. Mit Verrückten muss man bekanntermassen vorsichtig umgehen, sonst werden sie gefährlich. Offensichtlich will man keine klare Analyse der Verhältnisse, weil die Konsequenzen nicht in die eigene Weltanschauung passen. Man lädt die Religionslehrerin Lamya Kaddor ein, die nicht erkannte, dass in ihrer Klasse Schüler waren, die sich auf dem Weg in den Jihad befanden. Nun soll sie erklären, warum der Islam unschuldig ist. Hamed Abdel-Samad hingegen, der gerade eine profunde Arbeit über Mohammed abgeliefert hat und dafür eintritt, dass Muslime sich endlich emanzipieren und für ihre Religion Verantwortung übernehmen, wird übergangen. Man will nicht wissen. Doch deshalb wird alles auch nur noch schlimmer werden.
Es herrscht in den Medien und in der Politik eine Gesinnungsethik, die einerseits dem eigenen Volk nicht über den Weg traut, anderseits aber von Fremden, die nie auch nur die Spur von religiöser Freiheit erlebt haben, die Heilung des eigenen Schuldgefühls erwartet. Selbstredend ist man gegen den Terror-Islam des IS. Aber praktisch etwas dagegen zu tun, ist nicht angesagt. Im Kern vollzieht die intellektuelle Öffentlichkeit für mich nur das, was Michel Houellebecq in seinem Roman mit «Unterwerfung» beschrieben hat.
Der Islam ist als Religion gescheitert. Und zwar bereits im Jahr 622 in Mekka. Mohammed konnte die Bewohner von Mekka nicht von seinen zum Teil mystischen Offenbarungen überzeugen und musste sich nach Medina absetzen. Dort wurde aus ihm ein Kriegsherr und aus seiner Botschaft eine Herrschaftsideologie. Er und seine Nachfolger machten sich daran, angeblich in Allahs Auftrag die Welt zu erobern und Gegner zu vernichten. Sie haben das sehr erfolgreich getan, und ihre Ideologie der Herrschaft war lange Zeit siegreich. Der IS macht im Grundsatz nicht viel anderes als die Herrscher Saudiarabiens oder Irans: Er benutzt den Koran als Waffe. Der Koran ist ein rauchender Colt.
Muslime in aller Welt sind entsetzt darüber, was in ihrem Namen passiert. Aber sie tun nicht wirklich etwas, um ihren Glauben von der politischen Ideologie zu befreien. Man distanziert sich nicht von Versen im Koran, die zu Mord an Andersgläubigen aufrufen. Es gibt keine Theologie, die die Rolle des Propheten als Kriegsherr hinterfragt. Weil der Islam alles sein kann, ist er das, was in seinem Namen geschieht. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Anders gesagt: Der Islam ist, was er ist, und nicht das, was man über ihn sagt oder sich von ihm erträumt.
Der Islam kann nur zur Religion werden, wenn er sich säkularisiert. Wenn er den Glauben nicht zur Machtfrage missbraucht. Es müssten Moscheen entstehen, in denen Männer und Frauen, das heisst Kernfamilien, gemeinsam beten könnten und die Frauen nicht weggesperrt würden. Die Moscheen haben oder hätten die Pflicht, ihre Religion als Teil einer Zivilgesellschaft zu leben. Solange Moscheen den jungen Männern die vertikale Trennung der Gesellschaft in Männer und Frauen vorleben, die Gesellschaft in Gläubige und Ungläubige teilen, verweigern sie sich einer Bürgergesellschaft. Die Muslime müssen diese Glaubens-Revolution selber machen. Und sich und ihren Glauben von den Ideologen, Vorbetern und Funktionären befreien. Sie müssen sich darum kümmern, was in ihrem Namen in den Moscheen passiert. Die europäische Gesellschaft kann und muss dies erwarten können, so wie sie sich selbst eine Aufarbeitung der Diktatur auferlegt hat.
Sie muss sich bis dahin gegen den politischen Islam zur Wehr setzen. Nicht nur mit der Beschwörung der Werte, sondern ganz praktisch. Solange die Muslime diese Aufgabe nicht bewältigen, muss die Religionsfreiheit Grenzen haben. Es bleibt nichts anderes, als ihre Vereine, Moscheen, Koranschulen zu kontrollieren. Die Vereine müssen offenlegen, wer sie finanziert und was dort gepredigt wird. Die Muslime müssen jetzt beweisen, dass sie friedlich sind. Es besteht kein Generalverdacht gegen die Muslime, aber die Unschuldsvermutung gilt auch nicht mehr.
Necla Kelek
Erschienen in: Neue Zürcher Zeitung, 03.10.2015
Die muslimischen Zuwanderer kommen – doch wir sind auf sie nicht vorbereitet.
Massen von muslimischen Zuwanderern strömen derzeit nach Deutschland in der Hoffnung, ein besseres Leben zu finden. Bereits vorher gab es Schwierigkeiten mit der Integration. Wie genau will man die Sache jetzt besser machen?
Im Jahr 2014 wurden in Deutschland etwa 175 000 Asylanträge gestellt. Von den Asylbewerbern waren 72 Prozent Muslime, 66 Prozent Männer und von diesen 68 Prozent unter dreissig Jahre alt. Die Zuwanderer sind also in der Mehrheit junge Männer muslimischen Glaubens. Dieses Geschlechter-Missverhältnis wird nicht so bleiben, denn diese Männer sind im heiratsfähigen Alter, und ihre Frauen oder Bräute könnten darauf hoffen, bald nachzukommen. In diesem Jahr rechnet man mit mindestens 800 000 Asylanträgen.
Diese Art von Familienvereinigung führte bereits vor zehn Jahren zu kaum lösbaren Problemen bei der Integration. Man richtete verpflichtende Deutschund Integrationskurse für die Partner ein. Damals kamen 15 000 bis 20 000 Ehepartner und Ehepartnerinnen ins Land, und der Integrationserfolg war trotz dem hochsubventionierten Plan bescheiden. Nun haben wir es vielleicht mit 500 000 oder einer Million Neuankömmlingen zu tun. Zurzeit bietet das deutsche Bundesamt für Migration 50 000 Plätze in Sprachkursen an. Nur mit einem «Wir schaffen das» ist das nicht getan. Das Geld ist offenbar da, aber weder die Politik noch die Gesellschaft sind auf dieAufgaben vorbereitet. Man kann mehr Betten bauen und mehr Brötchen backen, aber woher will man die Lehrer nehmen?
Es fehlen indes nicht nur die Lehrer, sondern auch die Konzepte.
Denn es kann und muss nicht nur um Sprachschulung gehen, sondern auch darum, die Werte unserer Zivilgesellschaft zu vermitteln. Gerade die in einer islamischen Gesellschaft sozialisierten jungen Männer bringen eine andereKultur mit. Die Freiheit erlernen Das Prinzip der Unterwerfung der Frau gegenüber dem Mann, der Herrschaft der Gemeinschaft über den Einzelnen muss kritisch benannt und überwunden werden. Die Muslime müssen unsere Werte akzeptieren lernen. Sie sollen die Freiheit des Einzelnen und das Recht auf Religion ebenso erfahren wie das Recht anderer billigen, frei von Religion zu leben. Gelingt dies nicht, werden sie sich in eine Parallelgesellschaft zurückziehen, wie die Erfahrung zeigt. Auch Freiheit muss man lernen und nicht nur, wie man einen Asylantrag ausfüllt oder im Supermarkt einkauft. Wir wollen diese Menschen in unserer Mitte aufnehmen, aber gleichzeitig unsere Identität als soziale und demokratische Gemeinschaft bewahren.Dazu gehört, dass die deutsche Gesellschaft sich darüber klar wird, was des Pudels Kern ist. Nur wer eine gefestigte eigene Identität besitzt, kann anderen ein Beispiel sein. Wer aber führt diesen Diskurs?
Revolutionäres Projekt Ich habe den Eindruck, die «Refugees welcome»-Kampagne ist auch so etwas wie ein nationalesWiedergutmachungsprojekt. Die einen helfen aus Nächstenliebe, andere befürworten den Zustrom von aussen, weil sie hoffen, damit endlich die ersehnte Umverteilung insWerk setzen zu können. Was der Sozialismus nicht geschafft hat, soll dank den Zuwanderern gelingen, nämlich endlich und nachhaltig die sogenannten Reichen zur Kasse zu bitten. Linke wieKonstantin Wecker würden am liebsten die Grenzen für alle öffnen und reden von der «Kälte des Verstandes» bei jenen, die zweifeln. Solche Argumente verfangen, weil sich auf dem von Medien und Politik aufgetürmten Berg der Moral auch ohne Konzept gut predigen lässt. Wenn es schiefgeht, werden diese Moralbürger schon die Schuldigen finden.
Die Zuwanderung aus dem Nahen Osten und Afrika wird Deutschland verändern. Durch die Schaukelpolitik unserer Regierung ist der Geist aus der Flasche. Allein in der Türkei warten Millionen darauf, nach Europa aufzubrechen. Sollte sich die Lage der Kurden in der Türkei verschlimmern, werden auch sie sich auf den Weg machen.
Was erwartet die Einwanderer in Deutschland? Verwahrung, Versorgung oder Integration? Wie das alles ausgehen wird, ist völlig offen. Wettervorhersagen sind im Moment präziser als Prognosen über die Volten der Regierung, die sich bald so, bald so nicht entscheiden kann. Es wird viel Geld ausgegeben im Moment, aber einen überzeugenden Plan für die Zukunft hat man nicht.
Dr. Necla Kelek
Erschienen in: DER HAUPTSTADTBRIEF 128, 26. März 2015
EINE PARABEL ÜBER DAS KOPFTUCHURTEIL DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS
Muslimische Mädchen wollen eine Ausbildung machen, selbständig sein, ihr eigenes Leben leben. Sie können es nicht, weil unsere "offene“ Gesellschaft sie aufgegeben hat, ihnen keinen Ausweg bietet, die Abgrenzung als Vielfalt feiert, findet Necla Kelek. Sie kritisiert das BVG-Urteil zum Kopftuch.
http://www.derhauptstadtbrief.de/cms/index.php/107-der-hauptstadtbrief-128/797-der-allwissende-turban
Erschienen in chrismon Februar 2015
Abb. Frank Höhne
Von Freiheit überfordert
Aus den Vororten von Paris und Hamburg ziehen sie in den „Heiligen Krieg“. Necla Kelek: Wir dürfen nicht noch mehr von ihnen verlieren!
Ich traf Kaja das erste Mal, als er 13 Jahre alt war. Er ging wie viele seiner türkischen Freunde nachmittags in die Koranschule der Moschee in Hamburg-Altona. Seine Mutter war stolz auf ihn, denn er trieb sich nicht wie die anderen Jungen im Viertel herum. In der Moschee, in der sie sich mit anderen Frauen auch zum Koranlesen traf, lernte er, wie sie sagte, seine Religion: Respekt vor den Älteren. Und es bewahrte ihn vor Drogen und Alkohol. Vor dem Hodscha hatten die Jungen Respekt, sagte sie. Für sie waren Respekt und Angst dasselbe. Kajas Mutter war die Tochter von Haselnussbauern von der türkischen Schwarzmeerküste. Sie empfand es als Glück, dass ihre Eltern sie nach Deutschland verheiratet hatten. So war sie versorgt und konnte auch für die Eltern in der Heimat sorgen. Welche Erwartungen auf sie als Mutter in Deutschland zukamen, darauf war sie nicht vorbereitet. Die Schule wird es schon richten, für die Erziehung sind doch die Lehrer da, dachte sie. Kajas Vater fühlte sich hauptsächlich seinen Eltern und der Familie in der Türkei verpflichtet. Ihm war beigebracht worden, dass er sein Leben für seine Eltern zu opfern habe. Später würde dann sein Sohn für ihn da sein. So erzogen sie ihre drei Kinder. Die beiden Mädchen bei der Mutter zu Hause. Verwandte und Bekannte gaben Acht. Für ihren Sohn waren die Männer, die Lehrer und der Hodscha in der Moschee, zuständig.
Kaja träumte davon, Automechaniker zu werden. Dafür brauchte er die mittlere Reife. Und dann würde er wohl seine Cousine aus der Türkei heiraten, sagte er mir. Das hätten die Eltern schon verabredet. „Und willst du das?“, fragte ich ihn. Kaja zuckte mit den Schultern. Er möchte lieber ein Mädchen heiraten, das deutsch spricht. Aber wenn er es tue, werde sein Vater sagen: „Habe ich dich auf die Welt gebracht, damit du mein Herz brichst?“
Als ich Kaja zehn Jahre später, da war er 23, wieder traf, war alles anders gekommen. Er hatte mit einem Abgangszeugnis die Schule verlassen, keine Lehrstelle bekommen und sich mit Jobs durchgeschlagen. Als herauskam, dass er eine deutsche Freundin hatte, kam es zum Bruch mit den Eltern. Der Vater stellte ihn vor die Alternative, entweder die Cousine zu heiraten oder auszuziehen. Er zog zu seiner Freundin, und seine Eltern pilgerten nach Mekka, um für seine Sünden zu beten.
"Denkt an eure Familien, warum lasst ihr sie leiden?"
Dann traf er Tayfun, einen jungen strenggläubigen Hodscha aus der Moschee in Wilhelmsburg. Der hörte ihm zu, und Kaja glaubte, verstanden und akzeptiert zu werden. Tayfun predigte, dass die Muslime die Befreier der Welt seien, die Erlöser von den Sünden, auch der Ungläubigen. Man müsse nur den „Djihad“, den richtigen Weg, wählen. Kaja begann, fünfmal am Tag zu beten, und versuchte, alle Vorschriften des Islam zu befolgen. Er kleidete sich nach der Sitte der „as-salaf“, der Altvorderen, ließ sich einen Bart wachsen. Das war vor fünf Jahren.
Nun ist Kaja verschwunden. Seine deutsche Frau ist zum Islam übergetreten. Sie und ihre kleine Tochter warten auf ihn. Seine Mutter macht sich schreckliche Sorgen, wenn sie die Nachrichten aus Syrien und dem Irak hört. Wir haben unseren Sohn verloren, sagt sie. An wen, kann sie nicht erklären. Wenigstens hat sie ihre beiden Töchter „ehrenvoll“ verheiratet. Sie wohnen mit ihren Ehemännern im selben Haus. Trost für den verlorenen Sohn spenden ihr die beiden kleinen Enkelsöhne.
Auch fünf Schüler der islamischen Religionslehrerin Lamya Kaddor sind in den „Djihad“ nach Syrien gezogen. Frau Kaddor erklärte es sich damit, „dass Jugendliche wie diese sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen – weil sie den falschen Namen haben, eine falsche Herkunft, weil sie sich vermutlich tagtäglich frustriert, ausgeschlossen und diskriminiert gefühlt haben“. Sie könne sich vorstellen, dass solche Erfahrungen anfällig machten für eine Propaganda der Art: Die behandeln euch doch nur schlecht, ihr kriegt keine Ausbildungsplätze und keine Jobs, weil ihr Muslime seid (Interview in „Zeit Online“). Auf die Frage, was sie den Männern sagen würde, könnte sie sie erreichen, antwortete Lehrerin Kaddor: „Ich würde ihnen sagen, dass ich enttäuscht bin, dass sie ihren Verstand ausgeschaltet haben. Ich würde ihnen sagen: Denkt an eure Familien, warum lasst ihr sie leiden?“
Lamya Kaddor reagierte im Prinzip ähnlich wie Kajas Mutter und sein Vater, der seinen Sohn verheiraten wollte. Sie appellierten an die Söhne, ihre Eltern nicht zu enttäuschen. Auch die Pädagogin verstand offenbar nicht, dass sie ein Erziehungsideal vertrat, das gerade die Ursache für den Verlust der Söhne ist.
Die Religion des Islam verschärft und legitimiert diesen familiären Anpassungsdruck. Das spiegelt sich besonders in der Erziehung wider. Wer aus diesen Verhaltensmustern ausbrechen will, muss dann auch die eigene Familie, die Gemeinschaft und die eigene Religion infrage stellen. Die meisten jungen Menschen haben aber nicht gelernt zu widersprechen und sind mit einer kritischen Haltung überfordert.
Eine Möglichkeit auszubrechen ist der Versuch, ein noch besserer Muslim zu sein als die Eltern. Dass junge Menschen die tödliche Mission ihrer Religion mehr lieben als die friedliche Seite und in den „Djihad“ ziehen, ist das extreme Resultat einer Überforderung. Die Gesellschaft erwartet von den jungen Menschen, dass sie in Schule und Beruf erfolgreich sind. Viele erfüllen diese Anforderung nicht, weil sie in der Schule zu schlecht waren, ihnen in der Familie nicht geholfen werden konnte. Auch ihre Gemeinschaft erwartet zwar von ihnen eine Mechanikerlehre, aber zuallererst Gehorsam und für den Opa da zu sein, wenn der zum Arzt gefahren werden muss. Eigenverantwortung wird weder geübt noch akzeptiert. Unangepassten bleibt nur die Flucht: vor der Familie, ins Spiel oder in Drogen, in den Krieg.
Die Jugendlichen müssen integriert werden
Was sind die Ursachen solcher Entwicklungen? Sie beruhen einerseits darauf, dass die Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion in der Theologie noch viel Nachholbedarf hat, andererseits auf den religiös-patriarchalisch-kollektivistischen Verhältnissen. Die Älteren verlangen von den Jungen, ihnen zu dienen, sich ihrem Willen und dem Glauben zu unterwerfen. In einer solchen Gemeinschaft gilt nicht der Einzelne, sondern der Haushalt als Rechtssubjekt. Der Einzelne ist kein Individuum, sondern ein Teil des Haushalts. Es gilt, das Ansehen oder die Ehre einer solchen Gemeinschaft nach außen zu leben und zu schützen.
Aber diese Werte stehen im Gegensatz zu denen der Mehrheitsgesellschaft. Dort gilt allgemein: Individualismus statt Kollektiv, das Recht auf Gleichberechtigung statt Patriarchat, selbstbestimmte Sexualität statt sexueller Kontrolle. Weil das Patriarchat mit solch anderen Wertvorstellungen untergehen würde, grenzt man sich ab und versucht, die dörflichen Kollektivstrukturen zu erhalten und den Einzelnen in der Bürgergesellschaft zu kontrollieren. Da passen die jüngeren Brüder auf, dass ihre Schwestern nicht mit fremden Jungen sprechen.
Necla Kelek
Necla Kelek in der NZZ, 4.1.2018
4,8 Kinder bekommt eine Frau südlich der Sahara im Schnitt. Ein Mitspracherecht bei der Zahl hat sie kaum. Erst wenn Afrikas Frauen sich von patriarchalischen, ökonomischen und religiösen Zwängen befreien, wird die Geburtenrate zurückgehen...
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Necla Kelek: Tagespiegel, 8.12.2017
Frau Kelek, dass Sie studieren konnten, haben Sie offenbar vor allem Ihrem Aussehen zu verdanken. Wären Sie nämlich hübscher gewesen, soll Ihre Mutter einmal gedroht haben, wären sie wie ihre Schwester früh verheiratet worden. Stimmt das?
Ja, das hat sie tatsächlich gesagt. Um die Familien der heiratswilligen Männer anzulocken, muss man jung, schön und keusch sein – da hat meine vergleichsweise große Nase gestört. (Kelek lacht)
Was macht das mit einem, wenn die eigene Mutter lediglich eine Braut in einem erkennen mag – eine Ware für den Hochzeitsmarkt sozusagen?
Ach, es war nicht so böse gemeint, wie es klingt. Meine Mutter war eigentlich eine sehr liebevolle Frau.
Sie mussten also nicht mit der latenten Angst leben, irgendwann zwangsverheiratet zu werden?
Nein, überhaupt nicht, das nicht. Meine Mutter ist selbst zwar nie zur Schule gegangen, hat aber ein modernes Leben der bildungsnahen Schichten geführt – und da waren Zwang- arrangierte oder gar Zwang zur Ehe verpönt. Aber ihr war es dennoch wichtig, dass ihre Töchter irgendwann verheiratet wären – da war sie sehr traditionell. Mit den strengen islamischen Traditionen kamen wir erst in Berührung, als wir Istanbul verlassen und nach Deutschland gezogen sind. Viele unserer Bekannten waren religiös und meine Mutter begann sich um den Ruf unserer Familie zu sorgen.
Wovon sah sie den Ruf bedroht?
Durch unseren westlichen Lebensstil. Obwohl wir weiterhin säkular lebten, mussten wir nach außen hin den Anschein einer traditionsbewussten Familie wahren. Abends in eine Diskothek zu gehen oder auch nur deutsche Freunde zu haben – all das durfte ich nicht.
Klingt nach schweren Zeiten.
Es gab eben eine sehr strenge soziale Kontrolle in der türkischstämmigen Gemeinschaft. Und mit arrangierten Ehen, manchmal aber auch Zwangsehen, wurde diese restriktive Gemeinschaft am Leben gehalten. Alle meine Freundinnen von damals sind verheiratet worden - und übrigens nicht nur sie, auch die Jungen wurden verheiratet. Das war damals ganz selbstverständlich.
Offensichtlich bis heute: Ihr Verein Terre des Femmes zeigt derzeit in einer Ausstellung Bilder, die türkische Kinder zum Thema „Zwangsheirat“ gemalt haben. Auf einer Zeichnung ist ein Mädchen zu sehen, das mit Teddybär in einem Käfig sitzt – das Leben im Käfig, wie häufig ist das noch Realität in der Türkei heutzutage?
Das kommt darauf an, wohin man reist: die Türkei ist immer noch ein gespaltenes Land. Ein Teil der Gesellschaft ist noch immer von Kemal Atatürks laizistischen Ideen geprägt und lebt dementsprechend säkular. Vor allem aber im Osten und Südosten des Landes, in den kurdisch-suniitischen Regionen, gehören Zwangsehen zur Tagesordnung. Selbst Mädchen im Kindesalter werden dort mit erwachsenen Männern, manchmal sogar aus der eigenen Familie, verheiratet.
Und der Gesetzgeber sieht tatenlos zu?
Offiziell ist Zwangsverheiratung auch in der Türkei verboten, die arrangierte Ehe aber nicht - auch nicht nach dem islamischen Ritus, also vor dem 14. Lebensjahr. Und man kann sich denken, wie groß der Druck sein muss, wenn ein zwölfjähriges Mädchen vor die Entscheidung steht, entweder verheiratet zu werden oder von der eigenen Familie verstoßen zu werden.
Die Zwangsverheiratung ist allerdings kein Phänomen, das auf Ostanatolien beschränkt wäre: Der „Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung“ ging für das Jahr 2013 davon aus, dass es alleine in der Hauptstadt 460 Fälle von Zwangsverheiratung gab …
… so ähnlich dürften die Zahlen auch dieses Jahr liegen - und die Dunkelziffer noch weitaus höher.
Im Mai hat der Bundestag Ehemündigkeit auf 18 Jahre angesetzt, um Kinderehen zu verhindern. Widerstand kam damals von Linkspartei und Grünen: von Parteien also mit traditionell feministisch-progressiven Überzeugungen. Hat Sie der Widerstand verwundert?
Ganz und gar nicht. Bei dem Thema haben wir bei Terre des Femmes seit Jahren gegen Widerstände aus diesem politischen Millieu kämpfen müssen. Das ist eine traurige Realität: Die deutsche Linke fordert zwar seit Jahren, dass die Gesellschaft bunter und vielfältiger werden soll. Sie übersieht dabei aber, dass in den Gruppen, die das Land bunter machen sollen, Menschrechte permanent verletzt werden. Eine offene, tolerante Gesellschaft wünsche ich mir auch, aber keine in der Mädchen zwangsverheiratet werden und ein Kopftuch tragen.
Die ehemalige Landeschefin der Grünen, Bettina Jarasch, hat letzte Woche davor gewarnt, einen „Kulturkampf um das Kopftuch zu führen“ und deshalb gefordert, dass Lehrerinnen mit Kopftuch an Berliner Schulen unterrichten können – bislang verbietet das Neutralitätsgesetz das. Halten Sie das für einen richtigen Schritt in der Integrationspolitik?
Ein Blick in jedes beliebige islamisch geprägte Land reicht um zu sehen, dass die Verschleierung dort einzig ein Instrument ist, um Frauen zu marginalisierten und auszugrenzen. Als Frau aber werde ich mich den Männerblicken nicht beugen und meinen Körper nicht verstecken. Wenn eine Politikerin in Berlin Frauen dazu ermutigt, sich zu verschleiern und die Verschleierung per Gesetz sogar legitimieren möchte, sendet das ein katastrophales Signal aus. Es ist geradezu schizophren, wenn deutsche Feministinnen die Freiheit in Deutschland auskosten und am Baggersee nackt ins Wasser springen, es dann aber befürworten, wenn muslimische Frauen einen Ganzkörperkondom überziehen sollen, bevor sie planschen gehen.
Woher kommt diese „Schizophrenie“ unter Linken?
Da kann ich nur mutmaßen, aber es scheint, als würden viele von ihnen in Muslimen ausschließlich die Opfer des weißen, kapitalistischen Westen erkennen wollen, die man nicht zu hart anpacken darf. Dabei wird vergessen, dass auch in reichen muslimischen Ländern wie Saudi-Arabien Frauenunterdrückung fester Teil des Systems ist. Und andererseits gibt es aber auch den Hang der Europäer, die Kultur und Gesellschaften des Orients romantisch zu verklären. Das trägt dann bisweilen rassistische Züge.
Ihre Kritiker kritisieren derweil, dass ihre Forderungen nach einem Kopftuchverbot von Rassisten missbraucht würde …
Ach, mir wird schon seit Jahren vorgeworfen, dass ich mit meiner Meinung die Rechte stärken würde. Aber das hat mich nie bekümmert, ich bin nicht rechts, ich habe ein Gerechtigkeitsempfinden – das ist ein großer Unterschied.
Erschienen in der EMMA –Frauenmagazin Nov.2017
In diesen Tagen erreichen uns aus der Türkei meist schlechte Nachrichten. Der Präsident setzt seinen Plan, die Errungenschaften der Republik den Traditionen einer osmanischen Vergangenheit zu opfern, Schritt für Schritt um. ...
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Necla Kelek: aus dem Buch „Himmelsreise“ Seite 146-159
Ein Kopftuch ist eigentlich doch nichts anderes als ein Stück Stoff – mal aus schlichtem Kattun, mal aufwändig mit Pailletten besetzter Georgette, aus Synthetik oder Seide, grell oder farblich dezent, kleinformatig oder großvolumig. Und doch ist es zum sichtbaren Symbol im Kampf um die Rechte der Frau geworden. In der Geschichte muslimischer Gesellschaften war es oft – um ein Bild des Geheimrats Goethe zu bemühen – die „Standarte“, unter der die „Heilsbringer“, die religiösen Ideologen, gegen die Moderne zu Felde zogen.
Mit dem Kopftuch wird, wo immer Muslime leben, Präsenz gezeigt und zwar nach innen wie nach außen, das Sonderrecht auf ein „religiöses Leben“ beansprucht und die Abgrenzung zu einer Gesellschaft demonstriert, „in der alles erlaubt ist“. Ich sehe darin das Bemühen, das Religiöse gegen das Säkulare, das Patriarchat gegen die Gleichberechtigung der Frauen in Stellung zu bringen, die Geschlechter-Apartheid festzuschreiben und die muslimische Frau aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Bis heute bietet dieses Stück Stoff immer wieder Anlass zum Streit.
Als Zankapfel tauchte der Schleier zum ersten Mal bei Mohammeds Auseinandersetzung mit den Juden in Medina auf. Anlass war, so wird es überliefert, ein Streit, den ein jüdischer Goldschmied mit einer muslimischen Marktfrau anzettelte und bei dem er ihr zum Spott anderer ihren Umhang entriss. Ein Muslim erschlug daraufhin den Goldschmied. Nun aber rächten sich die Juden und töteten den Mörder. Mohammed fasste diesen Vorfall als schwere Beleidigung auf. Der Prophet erklärte der jüdischen Gemeinde, die sich ohnehin allen seinen Bekehrungsversuchen verweigert hatte, den Krieg, vertrieb die Juden aus Medina oder brachte sie um. Die „entschleierte Frau“ war der – nicht ganz unwillkommene – Anlass, mit den Juden abzurechnen, die nicht zum neuen Glauben überwechseln wollten.
Aber erst nach dem Tod Mohammeds wurde es üblich, einen „Schleier“ anzulegen. Die christliche Mode wurde nach der Eroberung Syriens im siebten Jahrhundert von den muslimischen Frauen in Arabien übernommen, allerdings galten ihnen das Kopftuch oder der Schleier weniger als Zeichen des Glaubens, sondern als Schutzschild vor den Zudringlichkeiten der Männer.
Umgekehrt machten in islamischen Gesellschaften Frauen ihren Anspruch auf Gleichberechtigung und auf ihren Platz in der Öffentlichkeit dadurch geltend, dass sie den Schleier ablegten.
In der Geschichte des Islam gibt es eine starke Tradition der „Entschleierung“, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, als der Ägypter Qasim Amin in einer Streitschrift für „Die Befreiung der Frau“ den Schleier, der die Frauen von der übrigen Gesellschaft trenne, als ein Zeichen der Erniedrigung wertete und sie ermutigte, sich seiner zu entledigen.
1923 warfen die Frauen der Ägyptischen Feministischen Union ihre Schleier demonstrativ ins Meer. 1927 legten 87 000 Frauen in Usbekistan öffentlich ihre „schwarzen Kutten“ ab, 300 wurden dafür von ihren Männern ermordet. 1925 verbot Atatürk in der Türkei den Schleier, 1936 ließ Schah Reza Pahlewi im Iran den Tschador verbieten, in den Fünfzigerjahren entschleierten sich tunesische Frauen.
1979 drehte Ayatollah Khomeini das Rad der Geschichte wieder zurück und verpflichtete die Frauen auf den Tschador. Die Frauen der Regierenden in der Türkei treten heute demonstrativ mit dem Schleier auf, aber der Versuch der AKP-Regierung, das unter Atatürk verhängte Kopftuchverbot an den Universitäten aufzuheben, führte 2008 zu einer massiven Regierungskrise. In Frankreich, in dem Land der Aufklärung und der Revolution, die uns die Freiheit gebracht haben, versucht die Regierung, die Burka, das Ganzkörperzelt, zu verbieten; in Deutschland dürfen Lehrerinnen nicht mit Kopftuch unterrichten; die Islamverbände wollen Kinder mit Kopftuch in die Schule schicken.
Allahs Religion gehorchen
Warum taucht das Kopftuch in Europa, in Ländern auf, in denen die Frauen über gleiche Rechte verfügen? Muss man darin ein Indiz für das weltweite Scheitern der Moderne sehen?
Und aus welchen Motiven legen muslimische Frauen das Kopftuch an? Wollen sie sich als Musliminnen zeigen? Und damit ausdrücken, dass sie die gottgewollte Herrschaft der Männer über die Frauen akzeptieren? Ein Zeichen gegen die „kalte“ westliche Welt setzen? Sich „unsichtbar“ machen, weil sie meinen, nicht in die Öffentlichkeit zu gehören? Nutzen sie es als identitätsstiftende Mode oder als „cooles“ Protestsymbol?
Unumstritten ist es jedenfalls auch unter ihnen nicht. 28 Prozent der in Deutschland lebenden Musliminnen tragen es, hauptsächlich sind es Frauen aus der Türkei und aus Nordafrika, Alevitinnen hingegen lehnen es grundsätzlich ab. In der Untersuchung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über „Muslimisches Leben in Deutschland“ vom Juni 2009 wurde nach den Gründen für das Kopftuch gefragt. 92,3 Prozent der befragten Tuchträgerinnen halten es für eine religiöse Pflicht, nahezu jeder zweiten Muslimin (43,3 Prozent) vermittelt es Sicherheit, und 43,3 Prozent wollen damit in der Öffentlichkeit als Muslimin erkannt werden. 36 Prozent legen es aus Tradition an, 15,6 Prozent als Schutz vor Belästigungen von Männern, 7,3 Prozent aus modischen Gründen. 6,7 Prozent sagen, dass der Partner es von ihnen erwarte oder fordere, in 5,8 Prozent der Fälle ist es die Familie, die das wünscht, und eben so viele sehen es als Erwartung ihrer „Umwelt“.i
Ich habe im Laufe der Jahre immer wieder mit in Deutschland lebenden jungen Kopftuchträgerinnen gesprochen. Nahezu alle haben zwischen ihrem vierten und dreizehnten Lebensjahr regelmäßig die Koranschule besucht – dort, so sagen sie, hätten sie ihren Glauben gefunden und gefestigt. Sie trügen ihr Kopftuch gern, hätten sich daran gewöhnt und könnten sich ein Leben ohne es nicht mehr vorstellen. Sie seien stolz, sich damit sichtbar von unverhüllten Musliminnen und von den Ungläubigen zu unterscheiden.
Mit den „unreinen” Deutschen wollen sie ohnehin nichts zu tun haben, wie mir eine Vertreterin der Schura, einer Vereinigung muslimischer Vereine in Hamburg, stolz erklärte. Ja, der Glaube verlange einiges von ihnen, aber es sei ihre Pflicht, nach Gottes Gesetzen zu leben, und Allah würde sie im Jenseits dafür belohnen. Vielleicht hätten es jene, die ohne Kopftuch und religiöse Pflichten aufwüchsen, im Hier und Heute leichter, aber dafür würden sie im Jenseits bestraft werden. Sie hingegen, die allen Verpflichtungen ihres Glaubens nachkämen, hätten es „geschafft“.
Mit diesem freiwilligen Verzicht auf ihre Gleichberechtigung stehen diese jungen Frauen nicht allein. Auf einer hitzigen Veranstaltung in Paderborn rief mir eine Kopftuchträgerin von der Empore aus wütend zu: „Ich bin Studentin, ich studiere mit Kopftuch, ich habe schon immer ein Kopftuch getragen, keiner hat mich dazu gezwungen. Ich gehorche meiner Religion und habe auch das Recht dazu. Was ist das für eine Welt, in der Frauen halbnackt ihren Körper zur Schau stellen? Was für eine Freiheit soll das sein?“ Sie befolge die Gesetze Allahs, so wie Er es von ihr erwarte.
„Lesen Sie mal den Koran, da steht die Wahrheit“, sprang ihr ein Afghane zur Seite.
Das hatte ich längst getan.
Der Koran kennt kein Kopftuch
Die ganze islamische Welt tut so, als sei das Kopftuch für Musliminnen religiös geboten. Ich bestreite, dass es eine „religiöse Verpflichtung“ gibt, ein Kopftuch zu tragen. Und ich kann mich dabei auf den Koran und die Überlieferungen berufen.
Im Koran stehen an zwei Stellen konkrete Hinweise auf die Bekleidung von Frauen: Sure 33, Vers 59, lautet: „O Prophet, sag deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen etwas von ihrem Überwurf über sich herunterziehen. Das bewirkt eher, dass sie erkannt werden und dass sie nicht belästigt werden. Und Gott ist voller Vergebung und barmherzig.“ Und in der Sure 24, Vers 31, heißt es: Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, dass ihre Scham bedeckt ist, den Schmuck, den sie tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht [normalerweise] sichtbar ist, ihren khimar, Schal, sich über den Schlitz [des Kleides] ziehen und den Schmuck, den sie tragen [nicht] offen zeigen, außer ihrem Mann, ihrem Vater, ihrem Schwiegervater, ihren Söhnen, ihren Stiefsöhnen, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und ihrer Schwestern, ihren Sklavinnen, den männlichen Bediensteten, die keinen [Geschlechts-]Trieb [mehr] haben, und den Kindern, die noch nichts von weiblichen Geschlechtsteilen wissen. Und sie sollen nicht mit ihren Beinen [aneinander] schlagen und damit auf den Schmuck aufmerksam machen, den sie verborgen tragen. Und wendet euch allesamt wieder Gott zu, ihr Gläubigen! Vielleicht wird es euch [dann] wohl ergehen.“ii
Die Anweisung, sich sittsam zu verhalten, nicht aufzufallen und sich frei nur im Beisein der Familie zu zeigen, war eine direkte Reaktion auf die Verhältnisse in Medina, wo Männer Frauen als Freiwild betrachtet haben. Die Frauen des Propheten sollten sich erkennbar von anderen Frauen unterscheiden – „dass sie erkannt werden und dass sie nicht belästigt werden“. Dafür sollten sie den khimar, ein Umschlagtuch ähnlich wie ein Sari, anlegen – der „Ausweis“ eines bestimmten Sozialstatus der freien Frauen, ihrer Dienerinnen und der jüdischen Frauen in der Kaaba. Sklavinnen war es – bei Androhung von Strafe – verboten, ihn zu tragen. Weder ist an diesen Stellen im Koran vom „Schleier“ die Rede, noch davon, dass der khimar über den Kopf zu ziehen sei.
Wie die in den Niederlanden lebende ägyptische Autorin Nahed Selim schreibt, „trugen Frauen zu Lebzeiten des Propheten kein Kopftuch, das Hals und Haare völlig verhüllte, wie strenge Musliminnen das jetzt tun, geschweige denn einen Gesichtsschleier. Sie warfen sich das Umschlagetuch, das manchmal nur wadenlang war, nachlässig über ihr normales Kleid, wodurch die Hälfte der Haare, ein Teil des Halses und der Busen zu sehen waren.“iii
Die Koranverse beziehen sich immer wieder auf den Busen der Frau, denn dort trug sie ihren Schmuck oder ihre Wertsachen, meist in einem Brustbeutel. Traditionalisten beziehen das arabische Wort zinet, Schmuck, auf den ganzen Körper der Frau, und übersetzen es als „Schönheit“. Aber das ist absurd, denn wenn im Vers steht, die Frauen sollen nicht mit ihren Beinen „aneinanderschlagen“, kann damit nicht ihre Schönheit gemeint sein, sondern die als Schmuck getragenen Fußreifen sollen vor der Begierde anderer geschützt werden.
Wenn Frauen in die Wechseljahre kommen, sind sie ohnehin von den Kleidervorschriften ausgenommen – auch das zeigt, dass es kein allgemeines, durch den Koran legitimiertes Kopftuchgebot geben kann: „Und für diejenigen Frauen, die alt geworden sind und nicht [mehr] darauf rechnen können, zu heiraten, ist es keine Sünde, wenn sie ihre Kleider ablegen, soweit sie sich [dabei] nicht mit Schmuck herausputzen“ (Sure 24, Vers 60).
Der Rechtsanwalt und islamische Philosoph Yasar Nuri Öztürk hält die Verhüllungsgebote, die bestenfalls Frauen, keinesfalls aber Mädchen beträfen, für eine zweckbestimmte, „den Umständen der Zeit, Region, ihren Arbeitsbedingungen, dem Klima“ geschuldete Vorschrift, nicht aber für ein religiöses Gebot. Heute, unter den ganz anderen Umständen, in denen wir leben, haben wir solche „zweckbestimmten Vorschriften“ überhaupt nicht mehr nötig. Die gleißende Sonne der Wüstengegenden, vor denen man den Körper schützen musste, kennen wir nicht; in eiskalten Nächten wärmt uns die Heizung; unseren Schmuck können wir durch verschließbare Schränke, Schatullen oder durch eine Versicherung vor unberechtigtem Zugriff oder Verlust sichern; und gegen sexuelle Belästigungen haben wir Gesetze.
Darüber hinaus mahnt der Koran auch die Männer: „Sag den gläubigen Männern, sie sollen ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, dass ihre Scham bedeckt ist. So halten sie sich am ehesten sittlich. Gott ist wohl darüber unterrichtet, was sie tun“ (Sure 24, Vers 30). Wäre mit der „Schambewahrung” der Frauen tatsächlich ein Appell verbunden, den Kopf zu verschleiern, dann würden konsequenterweise die Männer mit diesem Vers dazu ermahnt werden, einen Hut oder – wie die Islamisten – zumindest ein Strickkäppi zu tragen. Tatsächlich aber hat der Vers hat eine ganz andere Wirkungsgeschichte gehabt: Der bei muslimischen Jugendlichen so beliebte Ausspruch „Was guckst du?“, die Aufforderung also, den anderen nicht „anzustarren“, rührt aus diesem Gebot, sich „schamhaft” zu verhalten.
Hinter dem Schleier
Die eigentliche Begründung für den „Schleier“ geht auf eine andere Geschichte zurück, die ursprünglich gar nicht mit einer Bekleidungsfrage verknüpft war – auf den hijab, den Vorhang, der die Männer von den Frauen im Haus trennte. Es war das Jahr 625, Mohammed hatte gerade seine achte Frau Zainab – sie war vorher die Frau seines Adoptivsohns – geheiratet und wollte in seinem Haus mit seiner Braut allein sein. Aber eine kleine Gruppe taktloser Gäste wollte nicht gehen. „Sie befanden sich noch immer im Zimmer und diskutierten. Ärgerlich verließ der Prophet den Raum.“ Als er in das Brautgemach zurückkam und die Gäste immer noch nicht gegangen waren, zog er einen Vorhang, sitr, zwischen sich und die anderen, „und in diesem Moment kam der Hijab-Vers herab“. Er lautet: „Ihr Gläubigen! Betretet nicht die Häuser des Propheten, ohne dass man euch zu einem Essen Erlaubnis erteilt, und ohne [schon vor der Zeit] zu warten, bis es soweit ist, dass man essen kann! Tretet vielmehr ein, wenn ihr gerufen werdet! Und geht wieder eurer Wege, wenn ihr gegessen habt, ohne zum Zweck der Unterhaltung auf Geselligkeit aus zu sein [und sitzen zu bleiben]! Damit fallt ihr dem Propheten lästig. Er schämt sich aber vor euch [und sagt nichts]. Doch Gott schämt sich nicht, [euch hiermit] die Wahrheit zu sagen. Und wenn ihr die Gattinnen des Propheten um etwas bittet, das ihr benötigt, dann tut das hinter einem Vorhang! Auf diese Weise bleibt euer und ihr Herz eher rein“ (Sure 33, Vers 53).
Die Folgen dieses Verses sind nicht zu unterschätzen. Nicht das jetzt die Höflichkeit einzog, sondern der hijab wurde zum Schlüsselbegriff der muslimischen Kultur. Der hijab trennt die Gesellschaft in ein Innen und ein Außen. Er wurde zur Begründung für den Schleier, mit dem muslimische Frauen unsichtbar gemacht werden sollten. Für andere Männer wurde der ivprivate Raum zur verbotenen Zone, zum Harem. Das hatte umgekehrt auch Konsequenzen für die Frauen: Ihr Bereich wurde das Haus, die Öffentlichkeit war den Männern vorbehalten. Fortan hatten die Frauen draußen nichts mehr zu suchen und wurden vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen – eine Tradition, die bis heute das Leben von Milliarden Frauen bestimmt.v
Der Mord von Dresden
Auf einer meiner Veranstaltungen klagte eine junge Frau, sie würde hierzulande wegen ihres Kopftuches diskriminiert – „nur weil ich anständig angezogen bin. Ich darf mit Kopftuch und langem Mantel nicht im Krankenhaus arbeiten, eine Halbnackte aber bekommt problemlos einen Job!“ Auch die Islamverbände behaupten, dass Kopftuch tragende Frauen in Deutschland „gesellschaftlich und menschlich abgewertet“ werden.
Wenn Frauen wegen ihres Kopftuchs in der Öffentlichkeit beschimpft oder angegriffen werden, ist das ein Akt der Diskriminierung, der geahndet werden muss. Der russlanddeutsche Migrant, der die 28-jährige Ägypterin Marwa El-Sherbini wegen ihres Schleiers als „Islamistin und Terroristin“ beschimpft und ermordet hat, wurde höchstmöglich bestraft. Dass er sie im Gericht angreifen und ermorden konnte, ist ein Versagen des Gerichts und der Polizei, die Marwa nicht schützen konnten. Wenn man allerdings den Prozess gegen ihn verfolgt hat, ist schon schwer zu beurteilen, wie man sich vor solch einer „menschlichen Waffe“ überhaupt präventiv schützen kann.
Nichts an diesem tragischen Fall spricht für jene Konsequenzen, die einige Journalisten und Islamfunktionäre glauben, daraus ziehen zu können. Wer gegen das Kopftuch opponiert, steht schon fast als Anstifter des Dresdner Mörders da – das legen zumindest die Äußerungen des Koordinierungsrates der Muslime nahe. Ihr Sprecher Ayyub Axel Köhler hatte starke Worte gefunden: „Marwa ist das bisher tragischste Opfer unserer muslimischen Schwestern, die unter Demütigungen, Verdächtigungen und Diskriminierungen zu leiden haben. Marwa ist auch Opfer der Hetze und Verleumdungen, die spätestens seit der Zeit der Entscheidung zum Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst und auf einschlägigen Internetseiten betrieben wird.“vi
„Man solle die Muslime doch endlich in Ruhe lassen, forderte Claudius Seidl in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Zunächst beklagte er in seinem Kommentar, dass „diese Gesellschaft erst die Trauer und das Entsetzen der Ägypter brauchte“, um auf das Verbrechen zu reagieren; dann schlug er vor, die „Kopftuchverbieter“ sollten „mal ein Jahr lang schweigen und nachdenken“.vii
Solche Argumentationen sind genauso demagogisch wie der Vorwurf an die 68er-Studenten, ihr öffentlicher Protest, ihre Demonstration gegen das Schah-Regime habe die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras 1967 erst möglich gemacht.
Aber es ist nicht nur die Diskreditierung einer gesellschaftlich notwendigen Debatte, die mich an solchen Positionen empört. Auch gegenüber den Muslimen drückt sich gerade in der vermeintlichen Fürsprache eine Diskriminierung aus, die nicht hinnehmbar ist. Wer über das Kopftuch nicht reden, wer sich mit den behaupteten „religiösen Vorschriften“ der Muslime nicht auseinandersetzen will, nimmt sie nicht als gleichberechtigte Bürger dieser Gesellschaft ernst. Sie „in Ruhe zu lassen“, heißt, sie in ihrer Parallelgesellschaft sich selbst zu überlassen, heißt, darüber hinwegzusehen, wie sie ihre Frauen behandeln, wie sie ihre Kinder erziehen, was sie ihren Töchtern zumuten und ihren Söhnen abverlangen.
Die zerstörerischen Konsequenzen einer solchen Haltung, die sich nicht um die muslimische Gemeinschaft kümmern will, haben wir in den letzten Jahren an zahlreichen Schicksalen erfahren – Hatun in Berlin, Morsal in Hamburg oder Büsra in Schweinfurt, um nur einige der über fünfzig Opfer von sogenannten Ehrenmorden in den letzten fünf Jahren zu nennen. Die Muslime „in Ruhe zu lassen“ wäre ganz im Sinne der Islamverbände, die das Kopftuchverbot für Lehrerinnen verantwortlich für den Mord an Marwa El-Sherbini machen. Es ist der durchsichtige Versuch, dieses Verbrechen als Ergebnis einer verbreiteten „Islamophobie“ hinzustellen, um sich Rückenwind für die Durchsetzung eigener Interessen zu verschaffen. Umgekehrt haben die „Ehrenmorde“ an jungen muslimischen Frauen für sie „nichts mit dem Islam zu tun“.
Dass für Marwa Freitagsgebete gehalten und Demonstrationen organisiert wurden, finde ich richtig – es ist Ausdruck des Mitgefühls, der Solidarität mit Marwa und ihrer Familie, den Opfern eines rechtsradikalen Täters. Aber ich möchte auch fragen, wann in den letzten Jahren von Muslimen je ein Bittgebet für die Opfer muslimischer Männer gehalten wurde? Der Versuch, mit Marwa Kopftuchträgerinnen generell als Opfer von Diskriminierung zu stilisieren, soll die inhaltliche Auseinandersetzung um die Rolle der Frau im Islam diffamieren.
Mit dem Kopftuch in die Scharia
Ich glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können, als ich Ende Juni 2009, zwei Tage vor einer erneuten Tagung der Deutschen Islam Konferenz, die „Empfehlungen“ der Arbeitsgruppe „Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis“ las. Dort stand: „In Ausübung ihrer Religionsfreiheit steht es Schülerinnen und Schülern an öffentlichen Schulen frei, Zeichen ihrer Religionszugehörigkeit zu tragen oder sich religiösen Vorschriften gemäß zu kleiden. Das Tragen des Kopftuches kann daher nicht in Schulordnungen, Elternverträgen o.ä. untersagt werden.“ Wollte sich hier die Islam Konferenz etwa – mit der Empfehlung, das Kopftuch als „religiöse Vorschrift“ zu akzeptieren – zum Befürworter von Prinzipien der Scharia machen? Sollte das ein Ergebnis unserer langen Debatten in der Konferenz sein?
Als ich im Plenum der Konferenz heftig gegen diese Weichenstellung protestierte, korrigierte mich der damalige Innenminister – die „Rechtslage“ in dieser Frage sei kompliziert, von der „Scharia“ könne aber doch gar nicht die Rede sein. Da irrte Herr Schäuble und mit ihm ein großer Teil der Öffentlichkeit, weil den meisten der Zusammenhang zwischen dem vermeintlich harmlosen Kopftuch und der wesentlich umstritteneren Scharia gar nicht bewusst ist.
Selbst Muslime nehmen das kontaminierte Wort „Scharia“ nicht gern in den Mund, allzu schnell werden damit Steinigungen und Peitschenhiebe assoziiert; aber das eigentliche Grundprinzip der Scharia, die religiöse Normsetzung, wird von vielen Muslimen akzeptiert. „Und lasst euch im Hinblick darauf, dass es [bei der Scharia] um die Religion Gottes geht, nicht von Mitleid mit ihnen erfassen, wenn ihr an Gott und den jüngsten Tag glaubt!“, mahnt der Koran (Sure 24, Vers 2). Es ist übrigens der einzige Vers im Koran, in dem das Wort Scharia vorkommt.
Der Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe, der an den Empfehlungen der Konferenz beteiligt war, definiert die Scharia als „die Gesamtheit aller religiösen und rechtlichen Normen, Mechanismen zur Normfindung und Interpretationsvorschriften des Islam“. Sie ist deshalb mehr als „islamisches Recht“, sie koppelt die „rechtliche Regelung“ an „religiöse Verpflichtung“viii. Das bedeutet im Klartext: Nicht die Rechte eines Individuums bestimmen die Rolle muslimischer Mitbürger in dieser Gesellschaft, sondern ihre Pflichten als Gläubige. Wie sich das mit dem Rechtsstaat vereinbaren lässt, nach dem ein Bürger dieser Republik die Gesetze zu befolgen hat, die von gewählten und damit legitimierten Abgeordneten verabschiedet werden, ist mir schleierhaft.
Wenn eine Gesellschaft es zulässt, dass andere Rechtskategorien als die der Verfassung Platz finden, wird das Recht zur Machtfrage, gilt über kurz oder lang nicht die bürgerliche Rechtsordnung, sondern das Recht der Gemeinschaft. Wenn Glaubensgemeinschaften nach eigenen Regeln leben und dies vom Staat geduldet wird, legen wir den Keim für eine Gegengesellschaft. Konkret heißt das, wenn wir den Bestrebungen der Islamvereine, ihr System der Scharia durchzusetzen, nicht Einhalt gebieten, wenn die Politik glaubt, diesem Bestreben „pragmatisch“ begegnen zu können, nehmen wir die Entstehung einer anderen Gesellschaft in Kauf. Es gab in der deutschen Geschichte schon einmal eine Zeit, in der eine „Volksgemeinschaft“ die Bürgergesellschaft verdrängte – mit fatalen Folgen.
Wenn die Deutsche Islam Konferenz Empfehlungen akzeptiert, die eine durch die Religionsfreiheit gedeckte „religiöse Verpflichtung“ vorsehen, dann wirft das überdies Fragen auf: Wer setzt denn diese religiösen Normen und mit welcher Legitimation? Es gibt im Islam keine autoritative Instanz, die das könnte und dürfte.
Ich frage mich, warum eine Konferenz, die der deutsche Staat als politisches Diskursgremium zur Integration der Muslime geschaffen hat, der Religionsfreiheit Schritt für Schritt einen höheren Rang einräumt als dem Recht auf Gleichberechtigung.
„Bei Schülerinnen überwiegt in der Abwägung ihre Religionsfreiheit gegenüber dem staatlichen Bildungs-/ Erziehungsauftrag“, heißt es in den Empfehlungen. Warum hat in der Arbeitsgruppe von den staatlichen Vertretern niemand dagegen protestiert?ix Wir wissen doch längst, dass die Wahrnehmung des „staatlichen Bildungsauftrags“ für eine gelingende Integration der Muslime entscheidend ist, das Kopftuch hingegen genau gegenteilig ein Mittel der Abgrenzung gegen die Mehrheitsgesellschaft. Diesen Zusammenhang bestätigen auch die Untersuchungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über „Muslimisches Leben in Deutschland: Je enger der Kontakt zur Moschee oder einem islamischen Verein ist, desto spärlicher sind die Kontakte mit Deutschen. Musliminnen ohne Kopftuch haben in der Regel bessere Deutschkenntnisse, einen höheren Schulabschluss, sind häufiger berufstätig und halten mehr Kontakt zu Deutschen.x
Nach Auffassung deutscher Juristen aber muss dem „Elternrecht“ Vorrang gegeben werden, sind die Eltern – auch im Falle des Kopftuchs – befugt, solche religiösen Normen für ihre Kinder zu setzen. Das gehört zu ihrem Recht auf „Religionsfreiheit“. Nur wenn das „Kindeswohl“ verletzt wird, darf der Staat in das Elternrecht eingreifen. Dass die Islam Konferenz dieses Recht der Eltern, ihre religiöse Auffassung durchzusetzen, höher stellt als den Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung, ist eine Kapitulationserklärung. Kinder sind schließlich kein Besitz der Eltern, sondern stehen unter dem Schutz der Grundrechte. Mir scheint, dass mangelndes bürgerliches Selbstbewusstsein, gepaart mit dem Wunsch, die Muslime zu befrieden, bei der Empfehlung Regie geführt hat. Faktisch ist sie die Legitimation der Scharia als Elternrecht. Eine Verletzung des Kindeswohls sieht die Konferenz darin nicht.
Ich komme zu einem ganz anderen Ergebnis.
Sexualisierung und soziale Apartheid
Mädchen vor dem 14. Lebensjahr mit dem Kopftuch in die Schule zu schicken, hat für mich nichts mit Religionsfreiheit oder dem Recht der Eltern auf Erziehung zu tun, es ist ein Verstoß gegen die durch das Grundgesetz garantierte Menschenwürde und gegen das Diskriminierungsverbot. Das Kopftuch qualifiziert das Mädchen als Sexualwesen, das seine Reize vor den Männern zu verbergen hat und weniger Freiheiten hat als seine Brüder und nicht-muslimischen Schulkameradinnen.
Jede erwachsene Frau mag für sich selbst entscheiden, ob sie sich verhüllt, aber Kinder mit diesem stigmatisierenden Zeichen aufwachsen zu lassen, heißt, sie einer sozialen Apartheid auszusetzen. Streng religiöse Muslime und ihre Islamverbände funktionalisieren die in der deutschen Verfassung garantierte Freiheit der Religionsausübung um und hoffen so, die islamische Geschlechtertrennung und die ungleiche Behandlung von Männern und Frauen durchsetzen zu können. Sie sexualisieren damit die Kinder.
Für das Recht auf das Kopftuch in der Schule sind muslimische Lehrerinnen durch alle juristischen Instanzen gegangen – und letztlich unterlegen. Nun werden die den Islamverbänden nahestehenden Familien ins Rennen geschickt, um das Kopftuch über ihre Kinder durchzusetzen. Es ist unsere Pflicht, die Kinder davor zu schützen.
Jedes Mädchen hat das Recht, als gleichberechtigtes Mitglied unserer säkularen Gesellschaft anerkannt und so behandelt wie auch geschützt zu werden. Es hat ein Recht, seinen Körper zu erfahren, seine eigene, aber auch andere Religionen und Auffassungen kennenzulernen und selbst zu bestimmen, ob es später ein Kopftuch tragen will oder nicht. Dazu muss es in einem von religiösen Vorschriften freien Raum aufwachsen können, muss lernen, sich bilden können, auch die Chance erhalten, jenes Selbstbewusstsein zu entwickeln, das ihm erst ermöglicht, sich gegen Bevormundung, auch die Bevormundung durch die eigenen Eltern, zur Wehr zu setzen. Seine Erziehung zur Mündigkeit muss durch die Bereitschaft des Staates gesichert werden, seinen Bildungsauftrag wahrzunehmen. Die Hintanstellung dieser Verpflichtung zugunsten des Elternrechts bedeutet für muslimische Mädchen, sie immer wieder den religiösen Vorschriften der Parallelgesellschaft auszusetzen. Ich sehe darin nicht nur den staatlichen Verzicht auf die Wahrnehmung seiner Integrationsaufgabe, sondern auch die Verweigerung von Freiheitsrechten für muslimische Mädchen.
Das deutsche Gesetz spricht seinen Bürgern „Religionsmündigkeit“ ab einem Alter von 14 Jahren zu. Das bedeutet, dass zumindest an den Schulen bis zur sechsten Klasse generell das Kopftuch nicht zugelassen werden darf. Jedes Kind hat ein Recht auf Kindheit, es muss über seine Rechte aufgeklärt werden und lernen, wie Freiheit gelebt und verteidigt werden kann. Es hat ein Recht darauf, Selbstbestimmung zu erlernen. Gerade muslimische Mädchen aus traditionellen Familien haben dazu nur in der Schule eine Chance – wo sonst? Sie ist die einzige „Integrationsagentur“, die alle durchlaufen müssen – warum geben wir diesen Anspruch auf?
Entschleiert euch, Frauen!
Emel Abidin Algan kommt aus einer streng religiösen Familie. Die Mutter von sechs Kindern und Funktionärin einer Milli Görüs nahestehenden Frauenorganisation hat das Kopftuch jahrelang mit Stolz getragen. Auch sie wollte sich „abgrenzen“, auch sie wollte ein sichtbares Zeichen ihrer Zugehörigkeit setzen.
Vor einigen Jahren aber hat sie das Kopftuch abgelegt und dies auch öffentlich bekannt. Ihre Kopftücher hat sie dem „Haus der Geschichte“ in Bonn übergeben und in einem Artikel der tageszeitung ihre Abnabelung von diesem angeblichen „Gebot“ beschrieben. Aus eigener Erfahrung weiß sie, dass es ernste Gründe für die Unfähigkeit gibt, das Kopftuch von heute auf morgen abzulegen: Zu tief sitzen Scham und Gehorsam in den Köpfen, zu groß ist die Angst vor Glaubensverlust und Sünde, zu klein ist der Mut, Erlerntes zu hinterfragen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Das Kopftuch vermittelt Sicherheit, Aufgehobenheit.
Heute kommt ihr das Argument, die Frau würde mit dem Kopftuch ihre Reize verhüllen, lächerlich vor, zumal so viele junge Mädchen das Kopftuch genau gegenteilig nutzen, sich damit stylen, ihm allerhand Schmuck anheften. Es waren Männer, sagt sie, die das Kopftuchtragen eingeführt haben – es wäre wünschenswert, wenn muslimische Männer heute dazu beitragen würden, dass es auch wieder abgeschafft wird.
Die muslimischen Frauen sollten sich dagegen wehren, die Interpretation ihrer Religion den Männern zu überlassen. Das Kopftuch hat mit religiöser Verpflichtung nichts zu tun, der Koran liefert dafür keine Belege. Wenn wir Schutz vor etwaigen Zudringlichkeiten suchen, sollten wir uns auf die Gesetze verlassen, die sexuelle Belästigung und Gewalt ächten und bestrafen. Muslimische Frauen müssen sich vielleicht vergegenwärtigen, dass ihnen die deutsche Gesellschaft, die Verfassung, im Zweifel die Politik und die Medien bei einem solchen Schritt helfen werden. Aber ein solcher erster Schritt muss von ihnen selbst getan werden. Sie müssen sagen:
Wir Frauen sind kein Besitz der Männer und auch nicht deren „Ehre“. Wir bestehen auf unseren verbrieften Rechten, auf unserer Würde und dem Recht auf Selbstbestimmung.
Frauen sind keine Manövriermasse der politischen Interessen von Männern und ihrer Funktionäre, sondern emanzipieren sich, weil sie in dieser Gesellschaft ankommen und an ihr teilhaben wollen – auch im Interesse der ihnen anvertrauten Kinder, deren Chancen nicht zuletzt von dem Vorbild ihrer Mütter abhängen.
Das Kopftuch soll Mädchen lehren, fügsam zu sein. Dagegen müssen wir Frauen uns dafür einsetzen, dass sie frei an allem teilhaben können – am Schwimmunterricht, an Ausflügen, an Tanzveranstaltungen – an allem, was ihnen hilft, selbstbewusst und stark zu werden.
Frauen müssen nicht beweisen, dass sie „rein“ sind. Sie selbst – und nicht die Umma oder die Familie – entscheiden, was ehrbar ist.
Frauen können sich nur selbst befreien – wenn es soweit ist, werden sie vielleicht wie 1923 die Frauen in Ägypten ihre Kopftücher wegwerfen und sie in Nord- oder Ostsee, im Rhein oder Main, in der Elbe oder der Spree untergehen lassen. Oder wie Emel die Kopftücher ins Museum bringen.
I Sonja Haug / Stephanie Müssig / Anja Stichs: Muslimisches Leben in Deutschland. Im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg, Juni 2009, S. 206
II Übersetzung von Paret
III Nahed Selim: Nehmt den Männern den Koran! Für eine weibliche Interpretation des Islam, München 2006, S. 46 f. Jede Koranübersetzung findet, je nach politischer Auffassung des Übersetzers, eigene Wörter für den Vers. Aber selbst die von den saudischen Wahabiten verbreitete Version, von dem ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime Nadeem Elyas ins Deutsche übersetzt, schreibt nur: „Sie sollen etwas von ihrem Überwurf über sich herunterziehen“. Selbst konservative Rechtsgelehrte können aus dem Koran weder eine Ganzkörperverhüllung noch den Schleier ableiten, das gibt der Text einfach nicht her.
IV Yasar Nuri Öztürk: Der verfälschte Islam, Düsseldorf 2007, S. 111 ff.
V Necla Kelek: Die fremde Braut, Köln 2005, S. 161
VI Erklärung des Koordinierungsrats der Muslime vom 8.7.2008, dokumentiert auf www.welt.depolitik/deutschland/article 4079998
VII Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 12. 7.2009, S. 23
VIII Mathias Rohe: Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München 2009, S. 9
IX Vielleicht hält man das Problem quantitativ nicht für relevant. Nach der Untersuchung von Sonja Haug et al.: Muslimisches Leben in Deutschland, a.a.O., S. 196, tragen nur sieben Prozent der Mädchen zwischen elf und 15 Jahren das Kopftuch.
X Ebenda, S. 204, Tabelle 31
Artikel in der EMMA vom 14. Mai 2017
Bild: Alexandra Eul
Frauenmarsch: Flop oder Erfolg?
Auch der Boykottaufruf des Scharia-gläubigen Moscheenverbandes konnte den Multikulti-/Frauenmarsch nicht verhindern. Nicht alle haben sich einschüchtern lassen. Auch wenn die Grüne stellvertretende Bürgermeisterin dem Rat der Schura folgt.
Es war ein bunter, fröhlicher Protestzug, der an diesem Samstag durch Hamburgs Einkaufsmeile Mönckebergstraße führte. "Wir Frauen sind in Bewegung!" - "Macht eure Töchter stark!" - "Nein heißt Nein!", riefen die Demonstrantinnen im Chor. Junge wie Alte, Dunkle wie Helle, Religiöse wie Nichtreligiöse marschierten Schulter an Schulter durch die Hansestadt. Und auch einige Männer hatten sich in den Zug eingereiht. Hamburgs erster "Frauen- und MigrantInnenmarsch" blieb seinem Motto treu: Ein vielfältiger Protest sollte es sein. Und eine Premiere: Erstmals haben in Deutschland Frauen und Männer protestiert, die sich gegen beides zugleich wehren wollen: Gegen Rechte und gegen Islamisten.
"Los, lauft mit, schließt euch an", ruft Hourvash Pourkian den Passantinnen und Passanten am Straßenrand zu. So manche kommen ihrer Aufforderung nach. Die iranischstämmige Unternehmerin, die seit über zehn Jahren in Hamburgs Integrationspolitik aktiv ist, hatte die Demo zusammen mit ihrem Verein "Kulturbrücke Hamburg" initiiert. An diesem Tag hat sie die Rolle der Motivatorin. Denn anstatt der erhofften 3.000 sind nur etwa 300 Menschen gekommen. "Sie haben mit ihrer Kampagne gegen uns Erfolg gehabt", klagt Hourvash.
Sie, das ist leider nicht nur der Scharia-gläubige Moscheenverband "Schura Hamburg", der sich im Vorlauf öffentlich von dem multikulturellen Frauenmarsch distanziert, also quasi zum Boykott aufgerufen hatte. Auch die stellvertretende Bürgermeisterin der Hansestadt, Katharina Fegebank von den Grünen, fühlte sich nach dem Boykottaufruf der Schura bemüßigt, ihre geplante Teilnahme an dem Multikulti-Marsch abzusagen.
"Erster Frauen- und Migrantinnenmarsch floppt" titelte daraufhin das Hamburger Abendblatt am Tag darauf hämisch auf seiner Webseite - ohne über die brisanten politischen Hintergründe aufzuklären.
Die Schura hatte zusammen mit der anonym agierenden Initiative "Sisters' March" aus Hamburg den Initiatorinnen des Frauenmarsches vorgeworfen, dass sie zu der „Diffamierung von ethnischen und religiösen Minderheiten“ beitragen. Stein des Anstoßes war Pourkians kopftuchkritische Haltung.
Was die FreundInnen der Scharia jedoch vor allem auf die Barrikaden gebracht hatte: Die Veranstalterinnen hatten die deutsch-türkische Autorin Necla Kelek als Rednerin eingeladen. Die Migrantentochter war mit "Die fremde Braut – ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland“ (2005) die Erste, die es gewagt hatte, den Islam und die patriarchalen Strukturen innerhalb der eigenen Community zu thematisieren.
Doch Necla Kelek ließ sich nicht einschüchtern. Sie ist - wie alle selbstkritischen MuslimInnen - Widerstand aus den eigenen Reihen gewohnt. Die Autorin und Aktivistin von Terre des Femmes tanzte ausgelassen in erster Reihe zu der Musik aus dem Lautsprecherwagen. Sie ist nicht alleine auf die Demo gekommen. Neben ihr laufen zwei weitere Frauen von Terre des Femmes: Geschäftsführerin Christa Stolle und Gründerin Ingrid Staehle. "Es war für uns völlig klar, dass wir heute hier sein werden", sagt Stolle. Denn schließlich stehe an diesem Tag in Hamburg endlich mal die Kritik an der Frauenfeindlichkeit im Zentrum des Protestes.
Im Gegensatz zum Frauenmarsch in Amerika. Stolle klagt: "Schauen wir uns doch den Women's March in den USA mal genauer an. Da protestieren die Pionierinnen der Frauenbewegung zusammen mit Islamistinnen. Durch solche Schulterschlüsse werden Frauenrechte doch verwässert und unglaubwürdig." Das sollte in Hamburg nicht wieder passieren.
Auch die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes erlebt immer wieder massive Anfeindungen wegen ihrer Kritik an Burka und Kopftuch, vor allem aus orthodox-muslimischen Kreisen, aber auch von Linken. "Es ist bedrückend, dass wir heute in einer Zeit leben, in der Frauen wieder Angst haben müssen, ihre Meinung offen zu sagen", findet Ingrid Staehle, die Terre des Femmes 1981 in Hamburg gegründet hat.
Ali E. Toprak, Bundesvorsitzender der kurdischen Gemeinde in Deutschland, war es ebenso wichtig, an diesem Tag dabei zu sein. "Ich finde es unerträglich, dass sich bestimmte Gruppen mit dem politischen Islam verbünden. Es geht hier doch um Errungenschaften wie Aufklärung, Frauenrechte und das Recht auf Religionskritik", sagt er. "Alle Demokraten müssen endlich Farbe bekennen, vor allem die Männer!" Verständnis für linke Feministinnen, die sich mit Islamisten verbünden, hat der Kurde wenig: "Diese Frauen sollen lieber für Frauenrechte kämpfen, anstatt für das Recht auf das Kopftuch."
Dass mitten in Deutschland einer kritischen Deutsch-Türkin ein Redeverbot erteilt werden soll, hat nicht nur Toprak erschüttert. Gleich mehrere Frauen sind mit Schildern angereist, auf denen steht: "Wir wollen Necla Kelek reden hören!"
Viele - wenn auch nicht alle - applaudierten, als Kelek zu guter Letzt ans Mikro trat. Und vielleicht hätten gerade die mitmarschierenden Frauen vom Deutschen Frauenrat besser nicht demonstrativ den Platz verlassen, als Necla Kelek das Wort ergriff.
"Eine Frau wird nicht als Muslimin geboren, sie wird dazu gemacht", ruft Kelek ins Mikro (in Anlehnung an das berühmte Zitat von Simone de Beauvoir). Von den Vätern, die die Herrschaft über die Frauen aufrecht erhalten wollen; den Müttern, die die Töchter zur Unterwerfung und die Söhne zu Prinzen erziehen; den Brüdern, die ihre Schwestern bewachen, sprach die in Istanbul Geborene. "Es ist nun unserer Aufgabe, uns einzumischen und die Verantwortung für die Verbesserung unserer Situation zu übernehmen", richtet die Deutsch-Türkin Kelek das Wort direkt an die muslimischen Frauen. Applaus.
Für Hourvash Pourkian ist der Protest nur der Anfang einer zukünftigen Vernetzung mit Gleichgesinnten aller Herkünfte. Denn nur ein Schulterschluss zwischen denen, die in Deutschland geboren sind und den Zugezogenen (wie Pourikan) kann uns Frauen in diesem Land unsere gemeinsamen Rechte sichern.
Alexandra Eul
Berlin, 22.05.2017
TERRE DES FEMMES fordert gesetzliches Kopftuchverbot bei Mädchen
TERRE DES FEMMES fordert, das sogenannte Kinderkopftuch im öffentlichen Raum, vor allem in Betreuungs- und Ausbildungsinstitutionen, für alle minderjährigen Mädchen gesetzlich zu verbieten. Darauf hat sich die Frauenrechtsorganisation auf ihrer jährlichen Hauptversammlung mit großer Mehrheit am vergangenen Wochenende verständigt.
Die Stärke der türkischen Herrschaft Erdogans und seiner AKP ist nicht nur seinem Machtwillen geschuldet, sondern hat auch sehr viel mit der Schwäche der Opposition zu tun. Jahrzehntelang hatte Atatürks republikanische Partei, die CHP, sich von den einfachen anatolischen Menschen distanziert, beherrschte eine „weiße Elite“ zusammen mit dem Militär das Land.
Erdogan hat seit 2003 die Verhältnisse auf den Kopf gestellt und inzwischen eine Autokratie von seinen Gnaden und des Wählers errichtet und die Opposition gemaßregelt und zahnlos gemacht.
Die CHP und ihre Führer waren immer staatstreu und so hielten sie es auch 2016 noch für richtig, die Immunität der Abgeordneten aufzuheben, und der Parteivorsitzende Kemal Kilicdaroglu verurteilte auf einer Kundgebung gemeinsam mit Erdogan den, wie wir heute vermuten können, „kontrollierten Putsch“ vom 15. Juli 2017.
Erst das offensichtlich manipulierte Verfassungsreferendum brachte die CHP zu der Erkenntnis, dass Erdogan niemals Kompromisse machen wird, sondern mit aller Macht von jedem Unterwerfung fordert.
Die Justiz warf dem stellvertretenden Vorsitzenden der CHP, Enis Beberoglu, vor, Informationen über Waffenlieferungen der türkischen Armee an die IS an den Journalisten Can Dündar gegeben und damit Hochverrat begangen zu haben. Dündar ist inzwischen in Deutschland und Beberoglu wurde vor wenigen Wochen zu 25 Jahren Haft verurteilt. Er sitzt in Istanbul im Gefängnis.
Für Kilicdaroglu muss dieses Urteil so etwas wie ein „Damaskuserlebnis“ gewesen sein. Die späte Erkenntnis, dass die Türkei eine Diktatur geworden ist. Aber anders als die intellektuelle Schicht, die sich nach der Zerschlagung der Gezi-Park-Bewegung, dem Verbot der freien Presse, der Entlassung Tausender wegen angeblicher Verbindung zur Gülen-Bewegung in die innere Emigration zurückzog, ging „Onkel Kemal“, wie man den CHP-Vorsitzenden jetzt auch nennt, wie in einem Akt der Verzweiflung und der Ohnmacht auf die Straße.
Auf die Straße, zum Volk
Und zwar über drei Wochen zu Fuß von Ankara nach Istanbul zum Gefängnis seines Freundes Enis, eines Journalisten, der zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er regierungskritische Unterlagen veröffentlichte. Er trägt dabei ein Schild, auf dem nichts weiter als „Adalet“, Gerechtigkeit, steht.
Wie einst Forrest Gump, der quer durch die USA läuft, um seine Jenny zu finden, und damit eine Volksbewegung auslöst, ging „Onkel Kemal“ jeden Tag 20 Kilometer zu seinem Freund. Zwischenzeitlich schlossen sich Zehntausende an.
Erdogan tobt, nennt die Demonstranten wie alles, was sich in der Türkei bewegt, „Terroristen“. Es scheint fast so, als sei dies eine 490 Kilometer lange Abbitte an den Verurteilten und eine Rückkehr der CHP auf die Straße, zum Volk.
Und es wäre zu wünschen, dass dieser Marsch, der vor dem Gefängnis in Maltepe endet, der Anfang einer demokratischen Basisbewegung wird. Erdogan forderte in der Putschnacht das Volk auf, auf die Straße zu gehen, um die Demokratie zu verteidigen. Vielleicht nimmt das Volk ihn jetzt beim Wort und fordert von ihm „Adalet“, Gerechtigkeit. Gerade hat Erdogan elf Menschenrechtler von Amnesty International festnehmen lassen. Die Zeit drängt.
Necla Kelek
Erschienen in: FAZ 1. April 2015
Was hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil, das Lehrerinnen zubilligt, Kopftuch zu tragen, getan? Es wirft den Kampf muslimischer Frauen um Selbstbestimmung auf fatale Weise zurück.
Es ist paradox. Viele Kommentatoren meinen, das Kopftuch sei zwar ein „religiöses Zeichen“, aber „kein gefährlicher Stoff“. Es sei ganz im Gegenteil ein Zeichen dafür, wie tolerant und stark unsere Gesellschaft ist, was sie alles aushält. „Ein guter Tag für die Religionsfreiheit“, jubelte der Grünen- Politiker Volker Beck. Zudem werde der Weg frei, sagen die Befürworter, dass mus- limische Frauen in Schulen nicht nur als Putzfrauen, sondern auch als Lehrerinnen arbeiten könnten. Das Kopftuch als Zei- chen der Emanzipation. Wenn es nicht so absurd wäre, könnten wir darüber lachen. Ich bin in der Türkei geboren, und eine der großen Errungenschaften der Türkei Atatürks war es, das Kopftuch aus Behörden, Schulen und Universitäten zu verbannen. Es war im zwanzigsten Jahrhundert ein Zeichen der modernen türkischen Frau, dass sie ihre Haare offen trug und rauchte. Bis zur Regierungsübernahme durch Erdogans AKP war etwa die Hälfte der türkischen Frauen erwerbstätig, das Kopftuch wurde vorwiegend auf dem Lande getragen. Inzwischen tragen fast zwei Drittel der türkischen Frauen den Schleier, ihre Erwerbsquote ist auf 22 Prozent gesunken. Auch Lehrerinnen dürfen heute in der Türkei das Kopftuch tragen. Ein Schelm,wer den Zusammenhang nicht sieht. Ich bin seit Jahren ehrenamtlich in Mädchenprojekten in Berlin-Neukölln tätig. Die Vereine organisieren Nachhilfe und Nachbarschaftstreffen. Der Druck auf die jungen Frauen durch ihre Familien und die muslimische Community, sich entspre- chend den islamischen Sitten zu verhalten und zu kleiden, hat stark zugenommen. Die Mädchen möchten eine Ausbildung, sie wollen selbständig werden und über ihr Leben bestimmen, aber es wird ihnen verwehrt. Sie werden keine Lehrerinnen, weil sie meist gar nicht die Schule beenden können, sondern vorher verheiratet werden. Sie werden Putzfrauen, weil sie nichts lernen durften und ihre Männer Wohnung, Auto und Familienhochzeiten nicht allein finanzieren können. Wer behauptet, das Kopftuchurteil ebnete Frauen den Weg in den Schuldienst, ist zynisch.
Wenn jetzt noch der Druck auf die Mädchen durch Lehrerinnen, die offensiv das islamische Frauenbild demonstrieren, zunimmt, wird ein weiterer Weg in die Selb- ständigkeit verwehrt. Die Eltern werden sagen: „Kleide dich anständig wie deine Lehrerin.“ Gestärkt wird das kollektive muslimische Selbstverständnis, das sich in der Koran-Sure 3, Vers 110 ausdrückt: „Ihr (Gläubigen) gebietet, was recht ist, und verbietet, was verwerflich ist.“
„Ein von der Lehrerin aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch kann allerdings deshalb besonders intensiv wirken, weil die Schüler für die gesamte Dauer des Schulbesuchs mit der im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens stehenden Lehrerin ohne Ausweichmöglichkeit konfrontiert sind.“ Das schrieb 2003 das Bundesverfassungsgericht zu seinem damaligen Kopftuchurteil. Eine Lehrerin mit Kopftuch ist ein stummes, aber beredtes Zeichen, dass die islamischen Normen Geltung haben. Wieso das Gericht seine Meinung geändert hat, ist nicht nachzuvollziehen.
Das aktuelle Urteil fällt der Integration und der Emanzipation junger muslimischer Frauen in den Rücken. Die Klägerinnen, wie schon 2003 das ehemalige Vorstands- mitglied der „Muslimischen Jugend in Deutschland“, Fereshta Ludin (siehe unten- stehenden Artikel), finden sich samt Unterstützern im Umfeld oder direkt in den politischen Islam-Verbänden wie „Milli Görüs“. Diese Verbände verfolgen eine Strategie: Sie versuchen, über Musterprozesse ihre Vorstellung vom religiösen Leben als Norm durchzusetzen. Ein Urteil hat für diese Verbände so viel Nutzen wie ein Gesetz. Sie werden wie beim Schwimmunterricht mit Klagedrohungen das Kopftuch an Schulen durchsetzen. Vor allem an Schulen, auf die mehrheitlich muslimische Schüler und Schülerinnen gehen, werden in absehbarer Zeit Kopftücher das Bild bestimmen.
Zu kritisieren ist auch, dass sich das Bundesverfassungsgericht in eine innerislamische Debatte einmischt. Drei Viertel der muslimischen Frauen in Deutschland tragen kein Kopftuch. Zwischen den Vertretern des konservativen Islams der Verbände und den unorganisierten säkularen Muslimen besteht Uneinigkeit darüber, ob das Kopftuch tatsächlich der Prophetentradition zuzurechnen oder nur ein Relikt des immer noch herrschenden Patriarchats ist. Das Gericht darf sich in diese Auseinandersetzung nicht einmischen; es sollte den säkularen Staat stärken und die Schwachen, in diesem Fall die Grundrechte von Frauen und Mädchen, schützen.
Necla Kelek
Artikel in der WELT vom 8. Juli 2017
Bild: Kemal Kilicdaroglu, Oppositionsführer der türkischen CHP, hatte die Idee. Tausende folgen ihm auf der Straße des Protestes
Quelle: AP
Ein Oppositionsführer lief zu Fuß von Ankara nach Istanbul, um gegen ein Urteil zu protestieren. Zuerst verspottet, wurde der „Marsch für Gerechtigkeit“ zu einer mächtigen Demonstration gegen Erdogan.
Die Stärke der türkischen Herrschaft Erdogans und seiner AKP ist nicht nur seinem Machtwillen geschuldet, sondern hat auch sehr viel mit der Schwäche der Opposition zu tun. Jahrzehntelang hatte Atatürks republikanische Partei, die CHP, sich von den einfachen anatolischen Menschen distanziert, beherrschte eine „weiße Elite“ zusammen mit dem Militär das Land.
Erdogan hat seit 2003 die Verhältnisse auf den Kopf gestellt und inzwischen eine Autokratie von seinen Gnaden und des Wählers errichtet und die Opposition gemaßregelt und zahnlos gemacht.
Die CHP und ihre Führer waren immer staatstreu und so hielten sie es auch 2016 noch für richtig, die Immunität der Abgeordneten aufzuheben, und der Parteivorsitzende Kemal Kilicdaroglu verurteilte auf einer Kundgebung gemeinsam mit Erdogan den, wie wir heute vermuten können, „kontrollierten Putsch“ vom 15. Juli 2017.
Erst das offensichtlich manipulierte Verfassungsreferendum brachte die CHP zu der Erkenntnis, dass Erdogan niemals Kompromisse machen wird, sondern mit aller Macht von jedem Unterwerfung fordert.
Die Justiz warf dem stellvertretenden Vorsitzenden der CHP, Enis Beberoglu, vor, Informationen über Waffenlieferungen der türkischen Armee an die IS an den Journalisten Can Dündar gegeben und damit Hochverrat begangen zu haben. Dündar ist inzwischen in Deutschland und Beberoglu wurde vor wenigen Wochen zu 25 Jahren Haft verurteilt. Er sitzt in Istanbul im Gefängnis.
Für Kilicdaroglu muss dieses Urteil so etwas wie ein „Damaskuserlebnis“ gewesen sein. Die späte Erkenntnis, dass die Türkei eine Diktatur geworden ist. Aber anders als die intellektuelle Schicht, die sich nach der Zerschlagung der Gezi-Park-Bewegung, dem Verbot der freien Presse, der Entlassung Tausender wegen angeblicher Verbindung zur Gülen-Bewegung in die innere Emigration zurückzog, ging „Onkel Kemal“, wie man den CHP-Vorsitzenden jetzt auch nennt, wie in einem Akt der Verzweiflung und der Ohnmacht auf die Straße.
Auf die Straße, zum Volk
Und zwar über drei Wochen zu Fuß von Ankara nach Istanbul zum Gefängnis seines Freundes Enis, eines Journalisten, der zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er regierungskritische Unterlagen veröffentlichte. Er trägt dabei ein Schild, auf dem nichts weiter als „Adalet“, Gerechtigkeit, steht.
Wie einst Forrest Gump, der quer durch die USA läuft, um seine Jenny zu finden, und damit eine Volksbewegung auslöst, ging „Onkel Kemal“ jeden Tag 20 Kilometer zu seinem Freund. Zwischenzeitlich schlossen sich Zehntausende an.
Erdogan tobt, nennt die Demonstranten wie alles, was sich in der Türkei bewegt, „Terroristen“. Es scheint fast so, als sei dies eine 490 Kilometer lange Abbitte an den Verurteilten und eine Rückkehr der CHP auf die Straße, zum Volk.
Und es wäre zu wünschen, dass dieser Marsch, der vor dem Gefängnis in Maltepe endet, der Anfang einer demokratischen Basisbewegung wird. Erdogan forderte in der Putschnacht das Volk auf, auf die Straße zu gehen, um die Demokratie zu verteidigen. Vielleicht nimmt das Volk ihn jetzt beim Wort und fordert von ihm „Adalet“, Gerechtigkeit. Gerade hat Erdogan elf Menschenrechtler von Amnesty International festnehmen lassen. Die Zeit drängt.
Necla Kelek
Berlin, 2016
„Wir sind nicht der verlängerte Arm Erdogans“, empört sich der Sprecher des türkischen Dachverbands der Moscheevereine DITIB. Dass die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e,V. (DITIP) unter der Leitung und Kontrolle der türkischen Religionsbehörde DIYANET in Ankara steht und damit der direkten Weisung des AKP- Ministerpräsidenten folgt, wird niemand ernsthaft bestreiten können.
Der Vorsitzende der DITIP ist gleichzeitig Botschaftsrat der Türkei, die Konsulate kontrollieren über eigene Attachés die Landesverbände und Moscheevereine. Die ehemaligen Vorsitzenden der DITIP wechselten zwischen der Leitung der DITIP und der Leitung der Außenabteilung der Diyanet in Ankara. Der derzeitige Vorsitzende der DITIB, Nevzat Yasar Asikoglu, kam 2014 nach Deutschland, nachdem er vorher die Lehrbücher für die Imam-Hatip-Schulen verfasst hatte.
Die fast 900 Imame werden von der Diyanet ausgewählt und für (meist) vier Jahre nach Deutschland delegiert, sie bekommen die Vorlagen und Themen für ihre Freitagspredigten aus Ankara. Bezahlt werden sie wie türkische Auslandslehrer mit ca.€ 2000 im Monat. Meist sprechen sie kein Deutsch oder nur soviel wie man in einem 6-Wochen-Kurs beim Goethe-Institut lernt. Die türkischen Moscheevereine der DITIP sind faktisch Außenposten des türkischen Staates und die größten organisierten Integrationsverhinderer, weil sie ihrem Finanzier verpflichtet sind.
Als ich 2005 mein Buch „Die fremde Braut“ in einer DITIP-Moschee in Hamburg-Altona vorstellen wollte, versuchte der türkische Religionsattache die Veranstaltung zu verhindern. Da sich der örtliche Moscheevorsitzende weigerte, der Anweisung zu folgen, wurde die Moschee vier Wochen später kurzerhand geschlossen und der Verein aufgelöst.
Am diesem direkten Einfluß hat sich bis heute nichts geändert. Und es ist auch eine Illusion zu glauben, dass die DITI oder ein anderer Islamverband an deutschen Universitäten ausgebildete Imame in ihren Moscheen akzeptieren werden. Wenn sie nicht bestimmen und kontrollieren können, wie die Imame ausgebildet werden, werden sie nie ein Gebet in einer Moschee leiten. In Deutschland ausgebildete Vorbeter widersprechen dem Selbstverständnis, dass sie dem Glauben und dem türkischen Vaterland verpflichtet sind. Es ist eine der großen Illusionen deutscher Integrationspolitik, dass sie Einfluß auf die Islam-Verbände nehmen können. Vielmehr werden dort wo Sozialdemokraten und Grüne regieren in den Ländern wie in Hamburg mit diesen Verbänden Staatsverträge geschlossen und will man sie als Institutionen öffentlichen Rechts anerkennen. Verbände, in deren Moscheen Freitagspredigte gehalten werden wie die in einer DITIB-Freitagspredigt: „Das Märtyrertum ist im Islam eine große Ehre. Selbst die Paradiesbewohner blicken mit wohlwollendem Neid auf den Rang derer, die ihr Leben für Allah ließen. Eines ist dennoch mit uns: unsere Religion, unser Land, für das sie mit ihrem Blut gezahlt haben und unsere Werte.“ Wer so in einer Moschee predigt trägt Verantwortung, wenn im Namen ihrer Religion ein Terrorakt ausgeübt wird.
Ich habe in der Islamkonferenz den damaligen Innenminister Schäuble und auch seine Nachfolger gefragt, warum die Bundesrepublik einem ausländischen Staat erlaubt, mit fast 1000 Beamten in Deutschland Innenpolitik zu betreiben. Ich habe gefragt: „Warum gibt die Bundesrepublik in dieser Frage ihre Souveränität auf?“ Bisher haben die verantwortlichen Politiker mit den Schultern gezuckt und geantwortet, dass sei der Geschichte geschuldet, als man noch davon ausging , dass die Türken das Land irgendwann wider verlassen würden. Ich habe die Hoffnung, dass jetzt wo die DITIB sich als fünfte Kolonne Erdogans geoutet hat, alle Verbände des organisierten Islam unter die Lupe genommen werden.
Ich halte es für nötig, dass nur Imame in deutschen Moscheen predigen dürfen, die an einer deutschen Universität eine Prüfung abgelegt haben, so wie Universitätsabschlüsse von ausländischen Ärzten überprüft werden. Sie sollten in der Lage sein Predigten auf Deutsch zu halten und die Inhalte ihrer Reden sollten öffentlich sein. Moscheen, die sich nicht von Gewalt – und Märtyreraktionen distanzieren oder in deren Räumen sich antidemokratische Gruppen treffen, sollten geschlossen werden können. Ich wäre für die sofortige Schließung der salafistischen Moscheen.
Die Moscheevereine müssen ihre Finanzquellen offenlegen und die Finanzierung durch das Ausland wie die Türkei oder die Ölstaaten untersagt werden.
Die Verbände des organisierten Islam sollten als das akzeptiert werden, was sie sind, nämlich die Vertreter der bei ihnen organisierten Mitglieder.
d.h. zur Zeit etwa 10 % der Muslime in Deutschland. Man sollte sie nicht als Vertreter „der“ Muslime akzeptieren, sondern als Vertreter des politischen Islam .
Es sollten keine Staatsverträge oder Vereinbarungen über Religionsunterricht oder Ausbildung von Imamen oder Religionslehrern mit den Verbänden des organisierten Islam geschlossen werden, sondern auf Ort- Länder- oder Bundesebene eine Art Sanhedrin“ einberufen werden. Ein Sanhedrin ist eine Versammlung von Gelehrten oder Sprechern, säkularen oder religiösen Vertretern des Glaubens, die jeweils nur für sich sprechen.
Der derzeit in Deutschland organisierte Islam ist eine Veranstaltung von ausländischen Kräften wie der Türkei oder Saudi-Arabien. Unser Land muß auch in Glaubensfragen seine Souveränität zurückgewinnen.
Necla Kelek 2016
Erschienen in: Neue Zürcher Zeitung, 23. März 2017
Tulpenwahn
Im April blühen in Istanbul wieder über 20 Millionen
Tulpen. Sie begrüssen die Besucher am Flughafen,
blühen in den Strassen, auf Plätzen, in Parks,
am Bosporus.
Vor über zehn Jahren hat die AKPStadtverwaltung
begonnen, jährlich ein Tulpenfestival
auszurichten, und hat Millionen Blumenzwiebeln
gepflanzt. In Parks gibt es seitdem im Frühjahr
Tulpenbilder, die Mittelstreifen der grossen Strassen
erstrahlen in den vielfältigen Sorten und Farben
des Liliengewächses Tulipa, im Türkischen Lale genannt.
Sie ist – ihre Blütenform, Tülbend, erinnert
auch sprachlich an den Turban der Osmanen – die
Blume der Sultane.
Die Tulpe wurde eines der grossen Motive der Iznik-Keramik, Tulpenbilder zieren die Wände des Topkapi-Palastes und sind Symbol der Stadt wie des Osmanischen Reichs. Und sie ist die Blume der Geschichte der türkisch-niederländischen Beziehungen.
Sie kam im 16. Jahrhundert von Konstantinopel über Wien nach Amsterdam, löste dort wegen ihrer Seltenheit, Schönheit, Farbigkeit und Vielfalt eine Begeisterung aus, die in einem Tulpenwahn gipfelte. Die Blumenzwiebeln wurden zum Spekulationsobjekt, der Handel mit ihnen führte zu völlig
neuen ökonomischen Spielarten. Da man die Tulpe durch Zwiebelteilung und Kreuzung zwar vermehren und ihre Gestalt variieren, das Ergebnis aber erst im nächsten Frühjahr bestaunen konnte, wurde der Leerverkauf, das aus dem Überseehandel bekannte Warentermingeschäft, zur Methode der Wahl. Tulpen wurden mit Gold aufgewogen, für fünf Zwiebeln bekam man ein Grachten-Haus. 1637 führte die Spekulation mit Tulpenzwiebeln zur ersten grossen Finanzkrise, der Preis fiel ins Bodenlose.
Aber die Liebe zur Lale blieb. In der Lale devri, der «Tulpenzeit» unter Ahmed III., zu Beginn des 18. Jahrhunderts, wurden nicht nur neue Tulpensorten aus den Niederlanden importiert, sondern es kamen auch die erste Druckerpresse und damit die Ideen der Aufklärung an den Bosporus.
Viele der Tulpen, die nach dem Willen der Stadtverwaltung
heute den Glanz und die Traditionen des Osmanischen Reichs und seiner AKP-Erben illustrieren sollen, sind – Ironie der Geschichte – aus Importzwiebeln aus den Niederlanden erblüht.
Hoffen wir, dass die türkischen Islamisten und Nationalisten, die in einer Art Rinderwahn die schwarz-weissen Kühe aus den Niederlanden aus der Türkei ausgewiesen und im Orangenwahn Apfelsinen geschlachtet haben, da diese an die
Farbe des Hauses Oranje erinnern, dies nicht als Schmach empfinden und demnächst in einen Tulpenwahn verfallen.
Necla Kelek
„Bald ist es soweit! Aufgeregt und voller Vorfreude blickt der elfjährige Tahsin auf das kommende Ereignis, das ihn und seinen kleinen Bruder Emir endlich zu Männern machen soll: Die Beschneidung. "Wenn ich beschnitten bin, dann bin ich ein echter Mann", freut sich Tahsin.
Jeder muslimische Junge muss beschnitten werden, so verlangt es die religiöse Tradition. Zwei Wochen nach Tahsins Beschneidung wird es ein großes Fest geben.“
Mit diesem Text kündigte der öffentlich-rechtliche „Kinderkanal KIKA“ die Sendung „Tahsins Beschneidungsfest“ am 7. Mai 2017 um 16.20 Uhr an. Es ist eine Wiederholung aus dem Jahr 2014 und trotz aller Proteste wird die Sendung ohne Kommentar oder Richtigstellung ausgestrahlt.
Es ist wohl Pressefreiheit, auch wenn hier aus politischen – wenn man nicht sagen will ideologischen – Gründen eine , wie man heute sagt, „alternative Darstellung“ der Realität vornimmt. Denn in dem Film wird Genitalverstümmelung als Märchen der Mannwerdung inszeniert. Weder Leid, Ängste, und Spätfolgen werden thematisiert. Unter dem Vorwand eine „andere Kultur“ zu zeigen, wird relativiert und verharmlost.
Vielleicht kommt ja der Zusatz: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen sie den Arzt oder Redakteur.
Es hat sich in der muslimischen Welt nichts geändert seit 2006 als ich in meinem Buch „Die verlorenen Söhne“ von der traumatisierenden Erfahrung meiner Neffen bei der Beschneidung berichtete. Es gibt – wie in allen anderen Fragen auch - keine selbstkritische Diskussion innerhalb der Gemeinde oder islamischen Rechtsschulen. Im Gegenteil wird die Beschneidung von Jungen nicht nur als identitätsstiftendes Ritual inszeniert, sondern die Inszenierung von Beschneidungsfesten ist vom politisch organisierten, auch zum Werkzeug der Missionierung geworden. So stiftete der türkische Präsident seit Beginn seiner Präsidentschaft im Jahr 2003 den muslimischen Brüdern in Somalia und Sudan eine Krankenstationen und die Kostenübernahme von über 10.000 Beschneidungen–.
Die Circumsion / Beschneidung von Jungen gilt in den meisten islamischen Rechtsschulen als zwingende religiöse Pflicht, Wadschib. Die anderen nehmen sie als Sunna, als einen kultischen Brauch. Kein Mitglied der Ulema, der Rechtsgelehrten sieht sie kritisch oder lehnt sie ab.
Es gibt Vertreter der vier islamischen Rechtsschulen, die halten die Beschneidungen von Jungen für Pflicht oder die von Frauen für eine „Ehre“.
Bei Frauenbeschneidungen ist die Praxis und Argumentation inzwischen leicht differenziert.
Weltweit sind nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation zwischen 100 und 150 Millionen Frauen und Mädchen beschnitten; allein in Afrika müssen jedes Jahr drei Millionen Frauen und Mädchen diese Qual erdulden. Die Praxis ist nicht nur am Nil verbreitet, sondern in 28 Staaten des westlichen und nordöstlichen Afrika und betrifft mehr als 90 Prozent der Frauen und Mädchen zwischen 15 und 49 Jahren. Der Ursprung der weiblichen Genitalverstümmelung liegt im Dunkel der Geschichte. Man glaubt sie bereits bei den Pharaonen nachweisen zu können; doch der Zusammenhang mit Vorstellungen, die weibliche Sexualität müsse in Schach gehalten werden, liegt auf der Hand.
Auch unter den Kopten in Ägypten und den äthiopischen Juden war die Beschneidung verbreitet. Doch die koptische Kirche hat diese Prozedur 2001 für unchristlich erklärt und damit in der eigenen Gemeinde nahezu vollständig abgeschafft. Selbst einflussreiche muslimische Gelehrte wie der Scheich Ali Guma von der Al-Azhar Universität hat die Genitalverstümmelung von Frauen 2006 in einer Fatwa als eine „ererbte Unsitte“ geächtet.
Aber keine der vier sunnitischen Rechtsschulen spricht sich explizit gegen die Beschneidung der Frau aus. Die in Ägypten bestimmende, eine von den vier islamische Rechtsschulen, der Schafiiten, außer ihrem Scheich Ali Guma, halten die Beschneidung für eine religiöse Pflicht, ebenso wie die rechtsschule Hanbaliten (vertreten in Saudi Arabien), wogegen die Malikiten (z.B.vertreten in Marokko) sie als Sunna, also empfehlenswert und die Hanifiten (vertreten bei den Osmanen) nur als „ehrenhaft“ ansehen.
Das am häufigsten in der Diskussion um die Beschneidung zitierte Hadith ist das Gespräch zwischen dem Propheten Mohammed und Umm Habiba. Sie war Beschneiderin und zog mit dem Propheten nach Medina. Als dieser sie fragte, ob sie ihren Beruf immer noch ausübe, soll sie geantwortet haben: „Unter der Bedingung, dass es nicht verboten ist und du mir nicht befiehlst, damit aufzuhören.“ Mohammed soll darauf geantwortet haben: „Aber ja, es ist erlaubt … wenn du schneidest, übertreibe nicht, denn es macht das Gesicht der Frau strahlender, und es ist angenehmer für den Ehemann.“ Einer anderen Quelle zufolge habe er gesagt: „Schneid es nicht ganz weg, so ist es besser für die Frau und erfreut mehr den Mann.“
Es gibt Gegner der Beschneidung, die auch mit dem Koran argumentieren und als Beleg dafür anführen, dass der Mensch Allah nicht mit Eingriffen in seine Schöpfung hineinpfuschen soll. Sie führen folgende Stelle , die Sure 32, Vers 7, an: „(Allah), der alles gut gemacht hat, als er schuf. Und er begann die Schöpfung des Menschen aus Ton.“
Während dieser Vers ja auf die Frau wie den Mann beziehen könnte, führen die Befürworter der männlichen Beschneidung einen recht weitgefassten Vers aus dem Koran, nämlich die Sure 16, „Die Bienen“ Vers 123, an. Der lautet in der Übersetzung von Rudi Paret: „Folge der Religion (milla) Abrahams, eines Hanifiten, - er war kein Heide.“
Konkret bezieht sich ein Hadith von Abu Hurayrah, auf diesen Vers. Er wird konkret: „Ibrahim (Friede sei mit ihm) beschnitt sich selber, als er 80 Jahre alt war.“ (überliefert von Al Bukhari Nr. 3107 und Muslim Nr. 4368).
Zudem wird hilfsweise angeführt, seien Propheten von Adam über Moses bis zu Jesus und Mohammed ohne Vorhaut auf die Welt gekommen, zudem sei ein Leben ohne Vorhaut hygienischer und für die Frau angenehmer.
Der Prophet sei zwar kein Mediziner gewesen, aber er habe gewusst, was richtig ist: "Schwarzkümmel ist eine Heilung bzw. Genesung für alles (Krankheiten usw.) außer dem Tod."
So steht es wenigstens auf der Internetseite eine Islamgruppe mit Namen enfal.
Die Beschneidung von Jungen ist (im Gegensatz zu der wie geschildert von Frauen) bis heute in der islamischen Welt unumstritten.
Während die weibliche Beschneidung offenbar mit der Vorstellung zusammenhängt, dass sie ein Mittel ist, die voreheliche Reinheit der Frau und ihre Treue in der Ehe sicherzustellen, also wie das Kopftuch oder die Burka dazu dient, die Frau unscheinbar und als Besitz des Mannes zu stigmatisieren, ist die Beschneidung des männlichen Glieds der Initiationsritus, ohne den der Junge in der islamischen Gesellschaft nicht akzeptiert wird. Die Beschneidung gehört zur männlichen Identität und zum Muslim-Sein. Ein muslimischer Mann ist nur, wer Schmerzen ertragen kann. Wer die Qual der Beschneidung nicht aushält oder nicht bereit ist, einen Teil von sich Allah zu opfern, gehört nicht dazu.
In dem von Prof. Dr.Rolf Herzberg initiierten Diskurs um die körperliche Unversehrtheit von muslimischen Jungen, die 2005 zu der Bundestagsdebatte und dem Gesetz zu Jungenbeschneidung führte, spielte die muslimische Praxis fast keine Rolle. Kein Wort über die Inszenierung sechs- oder zehnjährige Jungen in einem Festsaal vor Hunderten von Zuschauer den Penis zuzurichten. Kein Wort über diese Art der Politik keine Debatte über den Versuch der Muslime, ihre Kultur der Unterwerfung zur gesellschaftlichen Norm zu erheben, stattdessen der Verweis auf die jüdische Traditionen, die in Deutschland sakrosankt sind.
Der Bundestag stellte schon vorher mehrheitlich fest, die Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen ist eine Menschenrechtsverletzung, die von Jungen aber nicht und ist erlaubt, wenn sie unter medizinisch unbedenklichen Bedingungen stattfindet. Was daran religiös ist, und wie sie praktiziert wird, ist den – jüdischen respektive muslimischen - Religionsgemeinschaften überlassen. Das die islamische Religionsgemeinschaft aber gar keine Repräsentanz hat, sondern die Islamvereine politische Organisationen sind, die nur eine Minderheit der Gläubigen vertreten und zudem mehrheitlich vom Ausland finanziert und gesteuert werden, wird dabei geflissentlich verschweigen. Es wird wider besseres Wissens so getan, als trage ein Moscheeverein Verantwortung.
Diese Scheinheiligkeit ist der Beleg dafür, dass die Politik durch alle Parteien die religionspolitische Debatte scheuen. Zwar wird von höchster Stelle also von Bundespräsident, Bundeskanzlerin und Innenminister und Oppositionsführer gern davon gesprochen „der Islam gehört zu Deutschland“. Aber über den Islam und seine Übergriffe diskutieren, etwas einfordern, in Frage stellen oder aus humanitären Gründen bestimmte Praktiken ablehnen, will offenbar niemand.
Die Beschneidung von Jungen wird von den Muslimen weder bewusst religiös noch hinterfragt vollzogen, sondern als gegeben hingenommen. Ein archaisches Ritual, das Unterwerfung, Identitätsfindung und Abgrenzung gegen die „Ungläubigen“ symbolisiert. Und wenn im Gesetzestext vom Einwilligungsgebot der Eltern ausgegangen wird, dann müsste man nachfragen, ob die muslimischen Eltern in ihrer Community überhaupt die Möglichkeit haben, sich gegen eine Beschneidung zu entscheiden. Meine Erfahrung aus jahrelanger Beobachtung in der Türkei wie in Deutschland sagt mir, dass Muslime, die ihre Söhne nicht beschneiden lassen, ihre Achtung in der Gemeinde verlieren und sozial ausgegrenzt werden. Wenn von Islamverbänden behauptet wird - so steht es in der Gesetzesbegründung – Beschneidungen muslimischer Jungen würden in Deutschland nicht gegen den Willen der Kinder und ausschließlich von Ärzten durchgeführt, entspricht das nicht der Wahrheit. Dieselben Funktionäre haben vor Jahren so lange behauptet, dass es keine Zwangsverheiratungen unter Muslimen gebe, bis man ihnen das Gegenteil bewies.
Während vor Jahren die Beschneider aus der Türkei eingeflogen wurden und große Feste in Hochzeitssälen organisiert wurden, hat sich diese Praxis in Teilen verändert. Heute findet das statt, was das Bundesjustizministerium als Begründung für die Legalisierung der Beschneidung angeführt hat. Man wolle, so das Argument, einen Beschneidungstourismus verhindern. Aber genau das findet jetzt in großen Umfang statt. Und nicht nur weil der türkische Präsident Erdogan damit den Fremdenverkehr ankurbeln will. Er sagte auf einem Tourismuskongreß Anfang des Jahres (2017), die Umma müsse zusammenhalten, und forderte die Auslandstürken auf , ihre - wie er hochrechnete - 50.000 Hochzeiten und Beschneidungsfeste doch bitte in der Türkei zu feiern.
Vor allem die türkische Mittelschicht betreibt auf diese Weise eine Camouflage. Einerseits wollen sie weiter ein Teil der türkisch muslimischen UMMA bleiben, deshalb werden die Jungen natürlich nach der Tradition beschnitten, andererseits ist man „modern“ und man macht es heimlich oder eben in der Türkei in einer Klinik, um unangenehmen Nachfragen in Europa, in diesem Falle in Deutschland, aus dem Weg zu gehen. Aber auch hier findet im innermuslimisch, türkischen Kreis – außer auf einigen Seiten im Internet - keine öffentliche und inhaltliche Debatte statt. Verhindert auch durch den Bundestag, der die Jungenbeschneidung legalisiert hat. Das Argument, man wollte die Beschneidung nicht kriminalisieren und die Eltern vor Gericht zerren, ist vorgeschoben.
Man hätte auch die Chance gehabt, diese Praxis nur zu dulden, und nicht explizit zu erlauben.
Die islamische Zivilisation ist nicht nur nicht säkular, sondern die islamische Religion und ihre Riten sind immer auch Geschäftsmodell, Legitimation und Ausweis, das Treib- und Bindemittel wie der Zuckerguss der islamischen Gesellschaft. Dass die rituelle Körperverletzung von Jungen vom Deutschen Bundestag unter den Schutz der Religionsfreiheit gestellt wurde, gehört zu den fatalen Fehleinschätzungen des Islam durch die Politik.
Der Islam ist – um eine aktuelle Debatte aufzugreifen - die Leitkultur der Muslime, er bestimmt den Alltag, das Weltbild, den Sinn der Gläubigen. Ihm steht unsere Auffassung von der Unverletzlichkeit der Person, das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, das Kindeswohl entgegen.
Die Legitimation der Beschneidung ist meiner Meinung nach Mißbrauch des Rechts durch den Gesetzgeber. Es geht um die Unverletzlichkeit der Würde und der Person und auch um das Recht des Kindes selbst zu bestimmen, was es glauben will und wenn es will, ohne Stigma und frei von Religion zu sein.
Necla Kelek
Artikel von Renate Bernhard:
Viel Wirbel gab es schon im Vorfeld. Für die drei Veranstalter der Fachtagung „Jungenbeschneidung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme“ - dem klinischen Institut für Psychosomatische Medizin, der Sektion Kinder- und Jugendpsychosomatik der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und der Betroffenenorganisation Mogis e.V. - schrieb Prof. Matthias Franz in der Rheinischen Post einen Vorbericht: Titel „Beschneidung ist ein Akt der Gewalt“. Darauf antwortete sein universitärer Kollege Dr. Rotem Lanzmann, Vorsitzender des Bundesverbands jüdischer Mediziner mit: „Antisemitismus ist ein Akt der Gewalt“.
Und schon war das Thema wieder in den Kontext gestellt, der weder seinen Umfang noch seine Komplexität abbildet, der aber genau das verhindert, was nötig wäre, um die neuesten medizinischen und juristischen Erkenntnisse bekannt zu machen.
Der Antisemitismusvorwurf in der Jungenbeschneidungsdebatte bildet nämlich in keiner Weise die Zahl der Betroffenen ab. Seit 2014 ist bekannt, dass rund 28.000 Jungen pro Jahr nur aufgrund von Normvorstellungen, aber ohne konkrete medizinische Beschwerden beschnitten werden. Dagegen stehen nicht mehr als ein paar 100 jüdische Säuglingsbschneidungen pro Jahr. Eine neue Betrachtung des Themas ist daher dringend geboten, zumal sich die Forschung seit Einführung des Jungen-Beschneidungserlaubnisgesetzes weiterentwickelt hat.
Kinderchirurg Maximilian Stehr wies nach, dass die Jungenbeschneidung kein harmloser Eingriff ist und sagte, dass 92% der Jungen, die ihm zur Beschneidung überwiesen werden, einen ihrem Alter entsprechenden, nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen völlig normalen Entwicklungsstand ohne irgendwelche Beschwerden haben.
Urologe Wolfgang Bühmann verdeutlichte, dass Ärzte zu heilen haben und nicht etwas abzuschneiden, was eine wichtige Funktion hat, worüber sich alle auf der Fachtagung vertretenen Mediziner einig waren: die Vorhaut ist die zentrale erogene Zone am männlichen Glied, sie ist wichtig für die Immunabwehr und für das sexuelle Funktionieren und dies für beide Partner. Bühmann erklärte die Fälle, in denen eine Beschneidung heute wirklich noch geboten ist: bei Vorhautverengungen des erwachsenen Mannes, die auf Kortisonsalbenbehandlung nicht ansprechen und im Fall von Entzündungen, bei denen die Salbenbehandlung versagt hat, was meist lediglich bei der seltenen Autoimmunerkrankung Lichen Sklerosos der Fall ist.
Die muslimische Hämatologin Susan Halimeh berichtete, dass sie häufig Komplikationen nach Beschneidungen zu behandeln habe, ebenso wie Kinderchirurg Peter Liedgens, der die Studien seines Oberarztes Kolja Eckert vorstellte. Durch dessen Einsatz wurden die Beschneidungsraten am Essener Elisabeth-Krankenhaus seit 2015 um 94% gesenkt.
Juraprofessor Jörg Scheinfeld legte dar, dass das Beschneidungserlaubnisgesetz, das Jungenbeschneidungen aus jeglichem Grund erlaubt, ein juristisches Kuriosum darstelle. Es widerspreche gleich mehreren unserer Grundrechte: Persönlichkeitsrecht, Körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung, Gleichheitsgrundsatz und sei somit verfassungswidrig.
Die türkische Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek kritisierte den Islam als Unterwerfungsreligion. Die Beschneidung der Jungen gelte dort unumstritten als Initiationsritus, ohne den ein Mann nicht akzeptiert werde. Schmerzen ertragen zu können, gehöre hier ins Männerbild. Eine selbstkritische Diskussion fehle sowohl im Islam als auch in der türkischen Gemeinde.
Der dänische Religionswissenschaftler Mikael Aktor, selbst Jude, berichtete vom Stand der Beschneidungsdebatte in Dänemark, dem dort existierenden Kinderschutztelefon und der Möglichkeit, dass Kinder sich dort Hilfe holen können, wenn sie nicht beschnitten werden wollen. Auch berichtete er, dass jede Beschneidung in Dänemark on einem obligatorisch anwesenden Arzt dokumentiert wird.
Die Betroffenen Önder Özgeday, Türke, und Viktor Schiering, der die große Gruppe der Phimose-Diagnose-Opfer vertrat, sprachen von ihren eigenen Erfahrungen und denen der in ihrem Verein organisierten Mitbetroffenen. Sie erklärten, wie schwer es den meisten falle, über das erlittene Leid zu sprechen, insbesondere, weil sie häufig dafür diffamiert würden. Sie forderten eine offene gesellschaftliche Diskussion und professionelle Hilfen für Betroffene und präsentierten sich als Beispiel gelungener Integration, „als Väter, vereint im Schutz um unsere Kinder“ in einem interkulturellen Miteinander, das bisweilen auch den Weg schwieriger Debatten um unveräußerliche Werte gehen müsse.
Der Psychoanalytiker Matthias Franz erklärte die psychohistorischen Wurzeln des Beschneidungsrituals und betonte: Eine unkritisch über Generationen unter hohem Gruppendruck wiederholt praktizierte Loyalität ersetze auf Dauer nicht das Nachdenken. Auch wenn dies „aufgrund unserer bleibenden Verantwortung für die Opfer des Holocaust und ihrer berechtigten Ängste historisch abgründig“ sei, müsse die Psychoanalyse auf guter empiririscher Grundlage hier zwei grundlegende Regeln des Kinderschutzes einbringen: „Man tut Kindern nicht weh“ und „Erwachsene haben an den Genitalien von Kindern nichts zu suchen“. Am Umgang mit den Schwächsten, entscheide sich schließlich der Fortschritt der Gewalteingrenzung einer sich zivilisierenden Gesellschaft und der religionskritische Jude und Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud habe schon vor über 100 Jahren seinen Söhnen die Beschneidung erspart.
Journalistin Renate Bernhard, die während der Beschneidungsdebatte 2012 im Vorstand von pro familia NRW und an der Entwicklung einer Stellungnahme zur Jungenbeschneidung beteiligt war, wies anhand ihrer Analyse deutscher Medien nach, dass die Beschneidungsdebatte 2012 hoch emotionalisiert und fachlich von Unwissen geprägt war. Auch die weiterhin vorherrschende Fokussierung auf Beschneidung und Judentum blende wichtige Bereiche des Themas aus: etwa die Sicht der negativ Betroffenen, die massive Beschneidungskampagne der WHO in Afrika, und die enorme Zahl der falschen Phimose-Diagnose-Opfer, die ohne medizinische Notwendigkeit beschnitten werden, nur aufgrund einer vor Jahrzehnten festgelegten Norm, die inzwischen als überholt gilt. Auch der weit verbreiteten Ansicht, weibliche Genitalverstümmlung und Jungen“beschneidung“ seien nicht vergleichbar, widersprach sie aufgrund ihrer seit 1998 in Filmen und Radioproduktionen dokumentieren Beschäftigung mit dem Thema der weiblichen Genitalverstümmelung ausdrücklich. Ihrer Einschätzung nach haben Genitalbeschneidungen großen Einfluss auf das Geschlechterverhältnis und gehörten dringend auch betrachtet im wissenschaftlichen Feld der Gender Studies.
Die 130 Teilnehmer der Fachtagung, die von der Ärztekammer mit 8 Fortbildungspunkten zertifiziert wurde, verabschiedeten eine Abschluss-Resolution mit im wesentlichen diesen Punkten: Genitale Unversehrtheit ist ein Menschenrecht aller Kinder. Ärzte sollten ausschließlich bei medizinischer Indikation beschneiden. Es braucht Aufklärungsinitiativen sowie flächendeckende Beratung für Eltern mit Beschneidungswunsch. Der Staat muss Therapie- und Beratungsangebote sowie Forschung zu akuten wie langfristigen physischen und psychischen Folgen fördern, auch in Bezug auf die Weitergabe traditioneller Männerbilder. Die umfassende Erlaubnis von Vorhautamputationen im Personensorgerecht muss aufgehoben und die Klagemöglichkeit von Betroffenen gegenüber Beschneidern und Sorgenberechtigten wiederhergestellt werden. Es kann nicht sein, dass Betroffene selbst bei schwersten Folgen keine Entschädigung geltend machen können.
Die Resolution in ihrem kompletten Wortlaut:
www.jungenbeschneidung.de/material/Abschlussforderungen.pdf
Mitschnitte der Vorträge:
www.jungenbeschneidung.de/index.php/kongressbeitraege
Die Autorin: Renate Bernhard ist freie Journalistin. 1998 begegnete ihr auf einer Äthiopienreise das Thema der weiblichen Genitalverstümmelung. Mit ihren preisgekrönten Radio- und TV-Dokumentationen (Katholischer Journalistenpreis, Eine- Welt-Filmpreis NRW, Nominierung zum Prix Europa) zu weiblicher Genitalverstümmelung, Zwangsheirat, Ehre, Ehrverbrechen und deren Wurzeln in der patriarchalen Gesellschaftsordnung geht sie seit 2002 auf (Film-)Vorträge. Seit 2001 wurden ihr die Parallelen zwischen weiblicher Genitalverstümmelung und Jungenbeschneidung zunehmend bewusst. 2012/13 war sie im Vorstand von pro familia NRW an der Entwicklung einer Stellungnahme zur Jungenbeschneidung beteiligt. Seit 2014 begleitet und beobachtet sie als ehrenamtliche Vertreterin von pro familia NRW die Arbeit der Intaktivisten-Szene. www.Renate-Bernhard.de
Copyright:
[email protected], www.Renate-Bernhard.de, Tel: 0212 / 38 38 98 38
Fachtagung „Jungenbeschneidung in Deutschland.
Eine Bestandsaufnahme“ an der Universität Düsseldorf
.Vier muslimische Dachverbände haben sich zu einen Koordinierungsrat zusammengeschlossen und wollen nun “mit einer Stimme“ für die staatliche Anerkennung des Islam als Religionsgemeinschaft eintreten. Damit erfüllen sie eine der Forderungen der Politik nach einem Ansprechpartner. Aber nützt das tatsächlich der Integration oder hat sich hier nur eine Glaubenspartei formiert?
Von Necla Kelek, April 2007
Es ist immer die gleiche Botschaft, wenn organisierte Muslime ihr Bekenntnis zum Demokratie ablegen. Ob am 11. April in der Köln-Arena, als sich vier islamische Spitzenorganisationen zu einem Koordinierungsrat zusammenschließen, oder in Stellungnahmen zu der Deutschen Islam-Konferenz. “Der Koordinierungsrat bekennt sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik“ heißt es in der Geschäftsordnung des Gremiums, um dann wie mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern hinzuzufügen, “Koran und Sunna des Propheten Mohammed bilden die Grundlage des Koordinierungsrates.“ Die Türkisch-Islamischen Union für Religion (Ditip) in Deutschland formuliert es in einem Thesenpapier noch geschmeidiger: “Das Hauptanliegen von Muslimen in Deutschland ist es, ihre Religion unter Bewahrung der eigenen kulturellen und religiösen Traditionen privat wie öffentlich und frei von jeglicher Benachteiligung ausleben und bewahren zu können.“ Und der Koordinierungsrat will mehr, er fordert die rechtliche Gleichstellung mit des Islam, er will als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt werden. er will Islam-Unterricht an den Schulen , Vergünstigungen im Steuer- und Baurecht.
Worauf berufen sich die Islamvereine?
Was ist darunter zu verstehen, wenn Koran und Sunna der Maßstab des Handelns sind? Gläubige Muslime berufen sich in ihrem religiösen Leben auf den Koran, die Sunna, die religiösen Traditionen, das ist die den heiligen Schriften und entsprechend der Worte und Taten Mohammeds genehmen Verhaltensweisen und die durch ethnische und andere kulturelle Sitten tradierten Verhaltensweisen. Viele von diesen Traditionen sind archaisch, ethnisch begründet, oder eben Sunna, wie zum Beispiel die Beschneidung von Mädchen und Jungen. Die einen Muslime dulden die Beschneidung von Mädchen, andere lehnen sie ab. Die Beschneidung von Jungen zum Bespiel halten alle für durch die Tradition geboten. Innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gibt es so über fast jede Frage des religiösen Lebens einen Streit.
Gerade einige dieser religiösen Traditionen stehen aber mit den Grundrechten und Traditionen der Zivilgesellschaft in Konflikt:
Zu den kulturellen und religiösen Traditionen der Muslime zählen, je nach religiöser oder ethnischer Ausrichtung die unterschiedlichsten Praktiken, wie die durch den Koran begründete Ungleichbehandlung von Frauen in gesellschaftlichen und rechtlichen Angelegenheiten; das Tragen von Kopftüchern bei Frauen und Kindern, der gesellschaftlich und religiös begründete “Zwang zur Heirat“, die Verwandtenehe, die Babyheirat, die Blutrache, der Ehrenmord , die Beschneidung von Mädchen und Jungen, der Versuch Mädchen vom Unterricht in staatlichen Schulen fernzuhalten, das Schächten von Tieren, die soziale Kontrolle, die Gewalt in der Familie , die Scharia, um nur die Offensichtlichsten zu nennen
Wer spricht für den Islam?
Ihr jeweiliges Verhalten begründen Muslime – mal mehr, mal weniger - mit dem Koran und der Sunna. Alle finden für ihre jeweilige Meinung ihren Vers in den heiligen Schriften und man hört , dass die Vertreter der Islam-Organisationen sagen werden, dies und das habe nichts mit dem Islam zu tun, je nachdem wie stark und was in frage gestellt wird. Aber es gibt auch von Muslimen gelebte soziale und religiöse Realität, es gibt die gelebte Kultur des Islam, die nach unseren Maßstäben oft fragwürdig ist.
Aber wer legt fest, was das traditionelle Leben der Muslime ausmacht und was nicht dazugehört? “Ihr Gläubigen seid die beste Gemeinschaft, die unter den Menschen entstanden ist. Ihr gebietet, was recht ist, verbietet, was verwerflich ist, und glaubt an Gott“. Sagt der Koran in Sure 3, Vers 110. Der Koran setzt so die Umma, aber auch jeden Einzelnen in die Rolle des moralischen Richters ein. Es gibt islamische Rechtsschulen, die Fatwas erlassen, aber es gibt keinen Konsens unter Muslimen, wie ihre Religion gelebt werden kann. Letztlich ist der Islam immer das, was der einzelne Imam predigt, oder der Vater, oder der Clanchef meint, oder was sie meinen, was die Hadithe, der Koran sagen. Die Berufung auf die religiösen Traditionen ist der Versuch, sich einen Freibrief für das private Verhalten zu holen, es ist die versuchte “Heiligsprechung“ des Alltags. Was die Muslim-Vereinssprecher mit unser “religiöses Leben“ meinen, ist aber nichts weiter als eine freundliche Umschreibung des Anspruchs der Muslime, in Deutschland nach den Regeln der Scharia, dem aus den Schriften und den Traditionen abgeleiteten Recht, leben zu können. Ist der Islam also dass, was die Ditib in Deutschland und ihr Chef aus Ankara, der extra zur Feier des Zusammenschlusses der Islamvereine aus Ankara eingeflogen wurde, predigt? Oder das, was Herr Kizilkaya, der für den mit der Milli Görus verbandelten Islamrat spricht, oder was Herr Ayub Köhler, der dem Zentralrat der Muslime vorsteht, sagt, oder ist es das, was der Imam in der Hinterhofmoschee predigt , oder die Al-Azar-Universität lehrt? Oder bin ich es, der sagt, was recht ist? Es gibt keine islamische Hierarchie, kein Gremium, keine Autorität, die das festlegt, deshalb kann auch niemand im Ernst verlangen, dass ungefragt diese religiösen Traditionen akzeptiert werden. Anerkannt werden schon lange nicht. Wir müssen genau hinsehen, was im Einzelnen damit gemeint ist.
Keine Sonderrechte
In diesem Land gelten die von den Menschen beschlossenen Gesetze und die durch die Geschichte entwickelten “Geist der Gesetze“, die westlichen Werte. Sie gewähren Freiheit, verlangen Verantwortung. Das gilt auch für Muslime, ein Gottesvorbehalt kann nicht akzeptiert werden.
Das Problem besteht vor allem darin, dass sich diese Auffassungen nicht nur auf die religiösen Rituale oder das religiöse Leben im engeren Sinne und auf die Muslime selbst beziehen. Da der Islam die Trennung von Leben und Glauben, von Staat und Religion nicht kennt, bezieht sich die Formulierung “unser religiöses Leben“ oder der Anspruch der Regelung auf alle Lebensbereiche und zudem auf das Verhältnis zu den “Ungläubigen“. Auch Nicht-Muslimische Kinder sind betroffen, wenn zu Ramadan plötzlich nichts mehr getrunken oder gegessen werden soll, wenn die Hälfte der Klasse nicht am Sportunterricht teilnimmt, oder das Wurstbrötchen aus der Schulkantine verbannt werden soll. Es gibt nicht nur Religionsfreiheit, sondern auch das Recht auf Freiheit von Religion. Das macht die Akzeptanz der Freiheit der religiösen Traditionen schlicht unmöglich, denn sie stoßen überall und in jeder Frage an die Grenzen, die sich diese Gesellschaft durch seine Gesetze gegeben hat. Niemand will jemandem vorschreiben, wann und wie er zu beten hat, aber meines Erachtens kann der Staat sich weigern, zu akzeptieren, dass sich jemand aus religiösen Gründen sein Kind vom Sportunterricht abmelden will.
Die Islamvereine sind nicht legitimiert
Der Koordinierungsrat der Muslime hat nicht nur ein demographisches Legitimationsproblem, was die Zahl der von ihnen vertretenen Muslime angeht. Sie vertreten etwa Zehntel der 3,2 Millionen als zu den Muslimen gezählten Menschen. Er kann schon rein zahlenmäßig gar nicht für “die“ Muslime oder “den“ Islam spreche . Der Koordinierungsrat hat zudem ein demokratisches Legitimationsproblem. Sie sind die Männer an diese Sprecherpositionen gekommen? Es gibt keine Strukturen , keine durchlässige Organisation, keine demokratische Kontrolle. Moscheevereine haben oft nicht mehr als die sieben Mitglieder, die für eine Vereinsgründung nötig sind. Es gibt innerhalb der Islamvereine keine Willensbildung und keine Kontrolle. Die Vertreter der Ditip sind zudem Beamte des türkischen Staates, sein Vorsitzender ist ein Diplomat, einer fremden Regierung verpflichtet. Ein türkischer Beamter, der AKP-Regierung in Ankara verpflichtet, soll den Islam in Deutschland repräsentieren? Wo bleibt da die Souveränität unseres Landes? Der Koordinierungsrat ist, um es salopp auszudrücken, so etwas wie eine Ratsversammlung von muslimischen Stammesführern. Im islamischen Wortgebrauch wird dies “Schura“ genannt, berufen wird sich hierbei auf den Koran Sure 42 Vers38 und Sure 3, Vers 138 , der lautet : “...lass dich auf eine Ratsversammlung mit ihnen ein.“ “Mit ihnen“ damit sind die Regierten gemeint, politischer Führer ist der Prophet. Dies sind übrigens die einzigen Stellen im Koran, die den Hauch von Beteiligung der Gläubigen an Gottes Geschäften beschreiben. Die Männer der Schura sprechen aus eigenem Anspruch und eigener Vollmacht. Sie sind mit dem was sie sagen, niemandem rechenschaftspflichtig. Was sie beschließe, hat keine direkte Wirkung auf die Gemeinden. Es ist eine Fassade ohne Haus. Sie sind deshalb nur so wichtig wie wir sie nehmen.
Der Islam, seine Vereine, die Vertretungen, der Koordinierungsrat vertreten die politischen Interessen des Islam, sie stellen im Kern eine “Glaubenspartei“ dar, für die Glaube und Politik eins sind, die das Weltliche nicht vom Geistlichen trennt. Sie versuchen mit den politisch Verantwortlichen dieses Landes einen Handel zu machen. Verbale Zugeständnisse gegen politische Anerkennung. Ich misstraue diesen Ankündigungen, weil ich bis jetzt in keiner Frage gesehen haben, dass sie tatsächlich bereit sind, Freiheit nicht nur für sich zu fordern, sondern auch zum Beispiel dem einzelnen, ihren Frauen und Kindern zu gewähren.
Wir müssen deshalb über die Politik dieser “Glaubenspartei“ sprechen, so wie wir über die politischen Ansprüche jeder anderen politischen Partei sprechen. Aber auch dieser Diskussion entziehen sich die Parteigänger des Islam, indem sie ihren Glauben vorschieben, ihn “heilig sprechen“ und für sich den religiösen Vorbehalt in Anspruch nehmen. Ein klassischer double-bind, den man sich in einer demokratischen Gesellschaft nicht zu eigen machen darf, denn er würde jede Auseinandersetzung über diesen Glauben unmöglich machen. Wir müssen über die Politik der “Glaubenspartei Islam“ sprechen, nur so können wir uns auch kritisch damit auseinandersetzen, was ihre Mittel, was ihr Zweck, was ihr Begründungszusammenhang ist und wofür sie verantwortlich sind.
Moscheen sind Männer-, keine Gotteshäuser
Die Islamvereine wollen als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt werden. Damit würden sie bestimmte Privilegien erhalten, unter anderem beim Bau von Moscheen. Die Vereine fordern, dass die Muslime ungehindert Moscheen errichten wollen. Sie sprechen von “Gotteshäusern“ und setzen Moscheen den Kirchen gleich. Nur verschweigen die Vereine, dass Moscheen traditionell ganz andere Aufgaben haben als Kirchen.
Moscheen sind in der islamischen Tradition keine heiligen Stätten, sondern der Ort, an dem sich die Männer der Gemeinde zum Gebet und Geschäft versammeln. Die Moschee ist in der Tradition ein sozialer und kein sakraler Ort.
Die Moschee ist in soweit heilig, wie alles im religiösen Leben der Muslime “heilig“ d.h. als unantastbar erklärt wird. Nicht mehr und nicht weniger. Der Koran erwähnt Moscheen nur in einem Vers: “… in Häusern, für die Gott erlaubt hat dass sie errichtet werden und dass darin seines Namens gedacht wird. Ihn preisen darin, am Morgen und am Abend, Männer, die weder Handel noch Kaufgeschäft ablenken vom Gedenken Gottes, das Gebet zu verrichten und die Almosensteuer zu geben, und die sich auf einen Tag gefasst machen , an dem den Menschen Herz und Gesicht umgedreht werden.“
Die Moscheen sind nach der islamischen Auffassung die Öffentlichkeit. und selbst Mohammed traf sich dort mit seinen Getreuen, und sie erfüllten wie der Islamwissenschaftler Peter Heine in seinem Islam-Lexikon schreibt, administrative Funktionen: “Hier fanden die Sitzungen des Stammesrates statt, und sie (die Moscheen) waren Versammlungsorte, wenn sich die Männer zu einem Kriegszug aufmachten.“ In der Moschee versammelt sich die Umma, die männlichen Mitglieder der Gemeinde zum Gebet und zum Geschäft. Es sind keine Sakralbauten, die ausschließlich zum Gebet genutzt werden, sondern soziale und politische Orte, Versammlungsorte.
Dagegen ist im Prinzip nichts zu sagen, aber sie sind eben keine Kirchen und deshalb auch nicht so wie sie zu behandeln. Ob eine Moschee gebaut werden kann, ist eine politische Frage. Und ein Kriterium für die Genehmigung ist deshalb, dienen sie der Integration, werden dort die Gesetze eingehalten. Und da sind Zweifel angebracht. So wie in vielen Moscheen in Deutschland der Islam praktiziert wird, damit haben sie sich zu einem Hindernis für die Integration gemacht und sich zu Keimzellen einer Gegengesellschaft entwickelt. Vor allem die größeren Moscheen in Deutschland entwickeln sich zu “Medinas“, zu Zentren in dem wie in einer kleinen Stadt alle Bedürfnisse abgedeckt werden. So finden sich meist in unmittelbarer, oft in örtlicher Einheit , Koranschule, koschere Lebensmittelläden, Reisebüros, Friseur, Beerdigungsinstitut, Restaurant, Teestuben etc. eben alles was ein Muslim braucht, der nichts mit der deutschen Gesellschaft zu tun haben will.
Ich mache dies an einem weiteren konstitutionellen Fakt deutlich. Moscheen sind Orte, an denen sich Männer versammeln. Moscheen waren und sind Männerhäuser. Frauen sind meist nur in separaten Räumen geduldet.
Eine demokratische Gesellschaft lebt aber davon, dass Männer und Frauen gemeinsam in der Öffentlichkeit Verantwortung tragen, gleiche Rechte haben und auch gleich behandelt werden. Die Trennung der muslimischen Gemeinde in die Männer, die in der Moschee sitzen, beten und ihre Geschäfte machen und die der Frauen, die in ihre Wohnungen verbannt sind, kann kein Integrationsmodell sein. Solange in den Moscheen die Frauen gar nicht oder nur hinter dem Hijab beten dürfen, solange sie dort nur geduldet sind nicht gleichberechtigt in diesen Häusern nicht sein dürfen, solange die Moscheen nicht das partnerschaftliche Miteinander, pflegen, sondern archaische und patriarchalische Strukturen befördern, solange sind solche Häuser für mich nicht akzeptabel. So wie in die Moscheen in Deutschland mehrheitlich betrieben werden, sind sie nicht nur Männerhäuser, sondern auch die Initiationsorte einer muslimischen Parallel- und Gegengesellschaft. Und diese Gesellschaft ist nicht nur von der deutschen Gesellschaft weitgehend getrennt, sondern trennt auch die islamische Gesellschaft vertikal, in Männer und Frauen. Außerdem wissen wir viel zuwenig darüber, was in den Moscheen gepredigt wird, in welchem Sinne die Koranschulen unterrichten. Und wir wissen nicht, von welchen Kräften die Moscheen finanziert werden und was sie finanzieren.
Missionierung durch Steine
Die Ditip wird von der türkischen Regierung finanziert und angeleitet. Seine Imame sind Angestellte des türkischen Staates. In der Türkei betreibt die Regierungspartei eine massive Islamisierung des Landes durch die Förderung des Baus von Moscheen. Selbst dort, wo zum Beispiel mehrheitlich Aleviten leben, wird der Bau von Moscheen vorangetrieben. Der Moscheebau ist zu einem politischen Instrument geworden. Das gilt auch für Deutschland.. Darin steckt nicht nur türkisches, sondern auch saudi-arabisches Geld.
Für mich ist der Versuch der muslimischen Organisationen, zum Beispiel der Ditip in Deutschland, so viele Moscheen wie möglich zu errichten, kein Beitrag zur Integration, sondern der Versuch der Missionierung durch Steine.
Die Muslime fordern den Moscheebau als Teil der “Bewahrung der eigenen kulturellen und religiösen Tradition“ ein. Insgesamt zielen seine Thesen auf die “Einbürgerung“ des Islam. Das ist im Prinzip zu begrüßen. Bezeichnenderweise werden hauptsächlich Forderungen an die aufnehmende Gesellschaft gestellt. Es sei für die Muslime eine “Selbstverständlichkeit die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik anzuerkennen“, heißt es. Für mich ist das ist nur ein Lippenbekenntnis, ein Aussage ohne Wert, wenn gleichzeitig erklärt wird: “Die im Koran festgeschriebenen Pflichten und Verbote gelten für jeden Einzelnen und sind zeitlos.“ Da argumentieren sogar einige Ditip-Funktionäre mit dem islamischen Prediger Tariq Ramadan auf einer Ebene, der sagt: “Wir sind für die Integration, wir selbst müssen entscheiden, was das heißt. Ich halte mich an die Gesetze, aber nur solange sie mich nicht zwingen, etwas gegen meine Religion zu tun."
Ich bin sicher, dass die Muslime mit ihren Erwartungen auf ein gleichberechtigtes religiöses Leben in der Bundesrepublik ihren Platz haben. Ich bin der Meinung, dass dies zum überwiegenden Teil bereits heute möglich ist. Ich bezweifle aber, ob die “muslimische Gemeinschaft“, ob um es konkret zu sagen, “der Islam“ in eine demokratische Gesellschaft integrierbar ist.
Da sich die selbst als offiziell bezeichnenden Vereine selbst nicht in der Lage ist, positiv zu formulieren, wie er in der demokratischen Gesellschaft ankommen will, was sie dafür tun wollen, sollte meines Erachtens die aufnehmende Gesellschaft Kriterien formulieren, wie dieses Zusammenleben erreicht werden kann. Das kann sie, in dem sie klare Regeln aufstellt, die die Freiheit und Verantwortung des Einzelnen schützt und fördert.
Der Weg der Vernunft
Wenn wir über den Islam und die Integration oder über Islam und Reform und über westliche Werte sprechen, dann müssen die veränderungsbereiten Muslime selbst einen Weg der Vernunft gehen. Sie müssen die Reform ihrer Religion betreiben, nicht indem sie mehr Raum und Gruppenrechte einfordern, sondern indem sie klug und maßvoll die Stärkung der Rechte des Einzelnen, des Individuums mithilfe der europäischen Gesetze fördern. Es geht nicht darum, Freiheiten auszunutzen, sondern für die Gesellschaft und die Religion Verantwortung zu übernehmen. Nur starke und selbstverantwortliche muslimische Männer und Frauen werden in einer modernen Gesellschaft ihren Platz und ihre Identität finden. Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass der Islam, jedenfalls so wie er sich in seinem politischen Kern heute darstellt, nicht in eine demokratische Gesellschaft zu integrieren ist. Er stellt sich in seinem ganzen Wesen als ein Gegenentwurf zur aufgeklärten, säkularen Zivilgesellschaft dar. Der Islam muss sich säkularisieren, daran führt kein Weg vorbei. Er muss den Dualismus der westlichen Gesellschaft anerkennen und leben, sonst wird er nicht ankommen und fremd bleiben.
Ich bin deshalb auch der Meinung, dass es zur Zeit nicht um eine staatliche Anerkennung der islamischen Organisationen als Vertreter des Islam gehen kann. Dafür erfüllen sie nicht die Voraussetzungen und sind sie auch nur ein marginaler Teil der Muslime in Deutschland. Und wie das Beispiel Österreich, wo die Muslime seit 1912 als Religionsgemeinschaft anerkannt sind, zeigt, führt die Anerkennung nicht automatisch zu einer besseren Integration. 45 % der Muslime, befand der vormalige Innenminister Prokop, seien “nicht integrationswillig“.
Aber ich bin der Überzeugung, dass jeder einzelne Muslim als gläubiger Mensch seinen Platz in dieser Gesellschaft finden kann. Ohne den spirituellen Sinn und eine Vielzahl der Riten seines Glaubens auf- oder preiszugeben. Und ich habe Hoffnung, dass dies gerade in Deutschland möglich ist.
Notwendige säkulare Einsichten
Folgende säkularen Einsichten könnten dabei hilfreich sein, wenn es darum geht, den Islam in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. und sollten auf der Islamkonferenz besprochen werden:
Muslim ist nur, wer sich ausdrücklich zum Islam bekennt.
Durch die muslimischen Organisationen wird nur vertreten, wer in ihnen organisiert ist.
Die Verbände und Vereine legitimieren sich demokratisch und sagen sich vom Einfluss fremder Regierungen los. Muslime akzeptieren die Freiheit und bekennen sich dazu, dass der Glaube Privatsache ist und niemand gezwungen werden darf, dem Glauben anzugehören und niemand Nachteile erleiden darf, der sich vom Glauben abwendet. Die individuelle Verantwortung und Selbstbestimmung und nicht die Umma ist Maßstab des gesellschaftlichen Miteinanders unter den Muslimen.
Muslime begreifen sich als Teil der demokratischen Gesellschaft und akzeptieren die Trennung von Religion und Politik.
Muslime wenden sich gegen die Scharia als Mittel der Rechtsfindung. Menschenrechte, Grundrechte und die Verfassung des demokratischen Staates sind unteilbar. Koran und Sunna spielen in der rechtlichen Ausgestaltung des Lebens keine Rolle, sondern dienen allein der persönlichen Religiosität.
Muslime erkennen die Gleichberechtigung von Mann und Frau in allen Bereichen an und kritisieren jegliche Form der durch Tradition, Sitte oder Sunna legitimierten Diskriminierung von Frauen.
Muslime bekennen sich dazu, dass ihre Kinder selbst entscheiden, wann, wen und ob sie heiraten. Muslime bekennen sich zum Recht auf Kindheit und zur Chancengleichheit in der Schule. Jede Art von religiös begründetem Fernbleiben wird abgelehnt. Das Tragen von Kopftüchern von Kindern – vor allem in der Schule - wird abgelehnt.
Muslime öffnen ihre Moscheen und Gebetshäuser für die gleichberechtigte Mitwirkung, Mitarbeit, gemeinsames Beten und soziale und politische Funktionen von Frauen.
Muslime fördern und betreiben die historisch-kritische Aufarbeitung der Schriften, des Koran, der Hadithe und der Geschichte des Islam. Sie wollen die Sakralisierung der Texte zugunsten eines zeitgemäßen Umgangs mit dem spirituellen Erbe aufgeben. Diskriminierung Andersgläubiger akzeptieren sie nicht.
Muslime erkennen ihre Identität als Muslime in den spirituellen Wurzeln ihrer Religiosität, sie verabschieden sich von der Funktion des Islam als “Glaubenspartei“.
Die Diskussion und Klärung dieser Fragen müssen die Muslime zunächst selbst tun, bevor über staatliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft gesprochen werden kann. Der Koordinierungsrat ist dazu ebenso aufgefordert wie die große Zahl unorganisierter gläubiger und säkularer Muslime. Es kann nicht zugelassen werden, dass Vereinsvorsitzende meinen für “den Islam“ zu sprechen. Der zur Zeit einzige Ort der Auseinandersetzung auf nationaler Ebene wo zur Zeit alle Meinungen um eine Lösung streiten, ist die Islam Konferenz der Bundesregierung. Hier muss sich auch der Koordinierungsrat der Muslime zur Säkularisierung bekennen. Wer Alleinvertretungsansprüche erhebt, fügt den Muslimen und der Integration in Deutschland Schaden zu.
Berlin, im April 2007
Dr. Necla Kelek
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